Deutschland 2010
Regie: Andres Veiel
Mit August Diehl, Lena Lauzemis, Alexander Fehling, Thomas Thieme, Imogen Kogge, Michael Wittenborn, Susanne Lothar, Sebastian Blomberg
Kinostart: 10. März 2011
Irritiert bis an die Grenze der Verstörung kommt Bernward Vesper (August Diehl) ins Tübingen der 1960er Jahre. Eine Flucht vor dem dominanten Vater und aus dessen herrschaftlichem norddeutschen Gut Triangel. Will Vesper (Thomas Thieme) hat seinem Filius Einiges mit auf die Reise gegeben: Nicht nur die Vergangenheit als Hofdichter der Nazis, sondern auch das Bewusstsein, als Schriftsteller gescheitert zu sein.
Will Vesper hat sich zwar mit allen Mitteln dem Hitler-Regime zur Verfügung gestellt, in dem er zum Beispiel die Bücherverbrennungen im Mai 1933 mit organisierte, aber einen Platz im Parnass der deutschen Literaturgeschichte – möglichst vor den Gebrüdern Mann oder Robert Musil – hat ihm das nicht eingebracht. Im Gegenteil, allgemeine Verachtung nach 1945. Seinen drittklassigen Schwulst mochte jetzt gar niemand mehr lesen.
Sohn Bernward sollte also die Karriere machen, die dem Vater verwehrt geblieben ist. So bestand zwischen Vater und Sohn ein äußerst schwieriges Verhältnis. Will hatte es verstanden, Bernward emotional an sich zu binden – bis zur Abhängigkeit.
In Tübingen lernte Bernward Vesper die Stuttgarter Pfarrerstochter Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) kennen. Auch für sie war die Universitätsstadt ein Fluchtpunkt. Auch sie hatte zu ihren Eltern ein schwieriges Verhältnis. Als der Vater im Krieg war, hatte die überforderte Mutter (Susanne Lothar) ihre Tochter zu Pflegeeltern abgeschoben.
Gudrun und Bernward wurden ein Paar. Sie beschäftigten sich weniger mit dem Studium, als mit der Herausgabe einer Werkausgabe Will Vespers. Nachdem die etablierten großen Verlage abgelehnt hatten, fand man schließlich bei einem rechtsradikalen österreichischen Verlag Unterschlupf. Weil die Bücher niemand interessierten, geriet Bernward Vesper finanziell in die Klemme und die Beziehung zu Gudrun in die Krise.
Inzwischen war ein Kind unterwegs und man zog nach Berlin. Hier fanden die Beiden umgehend Kontakt zur politisch linken Subkultur. Gudrun begegnete einem Paradiesvogel der Andreas Baader (Alexander Fehling) hieß und begann eine Affäre mit ihm. Bernward blieb als Kindermädchen und Zaungast außen vor.
Zwar hatte er mit seiner Zeitschrift „Voltaire Flugschriften“ einen ansehnlichen Erfolg, aber die schriftstellerische Karriere stockte. Nach dem Gudrun, Baader und noch ein paar Andere 1968 in Frankfurter Kaufhäusern gezündelt hatten, waren sie plötzlich in allen Medien. Ihr anschließendes Abdriften in den Terrorismus ist Geschichte.
Das weitere Schicksal des Bernward Vesper rückte in den Hintergrund. Mehr und mehr wurden bei ihm Symptome einer schweren psychischen Krankheit offenbar. Unter den Augen der Psychiatrie beging er 1971 Selbstmord. Sohn Felix wuchs bei Pflegeeltern auf. Bernward Vespers monumentale Lebensbilanz „Die Reise“ erschien postum 1977 im März Verlag und gilt heute als literarisches Vermächtnis einer ganzen Generation.
Während sich Stefan Aust in seinem „Baader Meinhof Komplex“ für diese tragischen menschlichen Hintergründe nur am Rande interessierte, hat Gerd Koenen darüber „Vesper, Ensslin, Baader – Urszenen des deutschen Terrorismus“ ein eigenes Buch geschrieben, das 2003 zum ersten Mal erschienen ist. Die Taschenbuch-Ausgabe wurde eben in der dritten Auflage ediert.
Auf Koenens exakt recherchierter und blendend geschriebener Dokumentation basiert „Wer wenn nicht wir“ von Andres Veiel. Ein überzeugenden Beweis dafür, dass ein großer Cineast im dokumentarischen, wie im fiktionalen zu Hause sein kann. Veiel gelang ein innovativer Film, der unangestrengt mit dem komplizierten, weit gefächerten Stoff umgeht.
Veiel macht frappant den Zeitgeist fühlbar, ohne in der puren Behauptung stecken zu bleiben. Fein ziseliert arbeitete er die Persönichkeitsprofile von Vesper, Ensslin, Baader aus. Wobei ihm bei der Zeichnung des familiären, gesellschaftlichen und politischen Hintergrunds pointierte Andeutungen genügen. Da zeigt sich seine große Erfahrung mit schwierigen dokumentarischen Sujets wie zum Beispiel „Black Box BRD“ und zuletzt der multimedialen Umsetzung von „Der Kick“. Da lernte er auch die Kunst, Schauspieler zu führen. Sie zeitigt in seinem Spielfilm-Debut großartige Ergebnisse: eine Ensemble-Leistung, wie sie perfekter nicht sein kann. Veiel standen dabei freilich Könner zur Verfügung.
Wer Lena Lauzemis als Amalthea in Christine Pohles Inszenierung von „Balbus“ an den Münchner Kammerspielen gesehen hat, wird in „Wer wenn nicht wir“ erleben, wie die junge Schauspielerin aus Gudrun Ensslin eine Frauenfigur von klassischem Format macht. Ebenso muss man eigentlich die Qualitäten von August Diehl oder von Alexander Fehling nicht besonders erwähnen: eben Goethe, jetzt Baader. Selbst in Nebenrollen nur die „erste Garnitur“ von Thomas Thieme bis Imogen Kogge und Susanne Lothar. Zur formalen Ausnahmestellung von „Wer wenn nicht wir“ tragen natürlich auch Judith Kaufmann (Kamera) und Annette Focks (Musik) bei.
Andres Veiel gehört nicht erst seit „Wer wenn nicht wir“ zu den großen Regie-Persönlichkeiten unserer Zeit, der ganz selbstverständlich und dabei völlig uneitel an einem Logenplatz in der deutschen Filmgeschichte arbeitet… Im Programm der „61. Internationalen Filmfestspiele“ macht er mit seinem Film ohnehin eine gute Figur!
P. S. „Die Reise“ von Markus Imhoof gibt es übrigens von Arthaus-Kinowelt auf DVD. Ein interessanter Vergleich bietet sich an. Zwischen den Filmen liegen fast 25 Jahre. Da veränderte sich zwangsläufig der Blickwinkel. Dem Schweizer Filmemacher stand dabei neben dem Ergebnis eigener Recherchen allein Bernward Vespers Buch als Quelle zur Verfügung. Er legte den Schwerpunkt auf die Lösung Vespers von seinem Vater (gespielt von Will Quadflieg) einerseits und Gudrun andererseits. Eine Reise in die Nacht…