Mit einer Lesung von Kafkas „Auf der Galerie“ hat sich Otto Sander schlicht und doch tief berührend für die Auszeichnung des Preises bedankt, der ihm gestern Abend im Rahmen des zur Zeit auf der Ludwigshafener Parkinsel stattfindenden „Festival des deutschen Films“ verliehen wurde.
Einer der ganz großen deutschen Schauspieler der Gegenwart wurde da geehrt. Er wird in zehn Tagen 71 und ist nach wie vor ein Rastloser, der wohl nie mit sich und seinen Meriten zufrieden sein wird.
Bereits sein erster öffentlicher Auftritt in Roland Klicks Kurzfilm „Ludwig“ von 1964 hat als eines der Auftaktwerke des „Jungen deutschen Films“ Geschichte gemacht. Dann gehörte Sander zum Ensemble von Peter Steins epochaler „Schaubühne am Halleschen Ufer“. Danach war das Theater anders als vorher und wirkt immer noch nach. Die Steinsche Verfilmung seiner Inszenierung von Gorkis „Sommergästen“lässt sich immer noch ansehen.
Später verhalf Otto Sander Wolfgang Petersens ambivalenter „Boot“-Verfilmung durch seinen kurzen, aber markanten Auftritt als desillusionierter, betrunkener Ritterkreuz-Träger gleich am Anfang zu einer Art Gewissen…
Dann natürlich – vielleicht seine bisher schönste Rolle – die des skrupulösen Engels Cassiel in „Himmel über Berlin“ und „In weiter Ferne so nah“. Davor und danach große und kleine, aber immer markante Rollen. Sanders Hörbuch-Kollektion füllt inzwischen eine ganze Bibliothek. Wobei Quantität bei ihm, dem Perfektionisten, immer gleichbedeutend mit Qualität ist.
Und dabei fühlt er sich dem Wesen von Kafkas „Auf der Galerie“ verbunden – ein ganzes Leben bzw. Lebensgefühl in zwei komplizierten Sätzen. Für Otto Sander kein Problem! Glückwunsch zum Preis – verbunden mit der Hoffnung, dass er uns noch recht lange erhalten bleibt…
Deshalb hier AUF DER GALERIE:
Wenn irgendeine hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin in der Manege auf schwankendem Pferd vor einem unermüdlichen Publikum vom peitschenschwingenden erbarmungslosen Chef monatelang ohne Unterbrechung im Kreise rundum getrieben würde, auf dem Pferde schwirrend, Küsse werfend, in der Taille sich wiegend, und wenn dieses Spiel unter dem nichtaussetzenden Brausen des Orchesters und der Ventilatoren in die immerfort weiter sich öffnende graue Zukunft sich fortsetzte, begleitet vom vergehenden und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich Dampfhämmer sind – vielleicht eilte dann ein junger Galeriebesucher die lange Treppe durch alle Ränge hinab, stürzte in die Manege, rief das: Halt! durch die Fanfaren des immer sich anpassenden Orchesters.
Da es aber nicht so ist; eine schöne Dame, weiß und rot, hereinfliegt, zwischen den Vorhängen, welche die stolzen Livrierten vor ihr öffnen; der Direktor, hingebungsvoll ihre Augen suchend, in Tierhaltung ihr entgegenatmet; vorsorglich sie auf den Apfelschimmel hebt, als wäre sie seine über alles geliebte Enkelin, die sich auf gefährliche Fahrt begibt; sich nicht entschließen kann, das Peitschenzeichen zu geben; schließlich in Selbstüberwindung es knallend gibt; neben dem Pferde mit offenem Munde einherläuft; die Sprünge der Reiterin scharfen Blickes verfolgt; ihre Kunstfertigkeit kaum begreifen kann; mit englischen Ausrufen zu warnen versucht; die reifenhaltenden Reitknechte wütend zu peinlichster Achtsamkeit ermahnt; vor dem großen Salto mortale das Orchester mit aufgehobenen Händen beschwört, es möge schweigen; schließlich die Kleine vom zitternden Pferde hebt, auf beide Backen küßt und keine Huldigung des Publikums für genügend erachtet; während sie selbst, von ihm gestützt, hoch auf den Fußspitzen, vom Staub umweht, mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will – da dies so ist, legt der Galeriebesucher das Gesicht auf die Brüstung und, im Schlußmarsch wie in einem schweren Traum versinkend, weint er, ohne es zu wissen.