Große Momente heute auf der Berlinale! Gleich am Morgen „Bal/Honig“ von Semith Kaplanoglu. Das der türkische Regisseur zu Großem in der Lage ist, hat er erst kürzlich mit „Süt/Milch“ gezeigt, der auch in den deutschen Kinos zu sehen war (mehr zu diesem Film unter „Neu im Kino“). Das war der Mittelteil von Kaplanoglus „Yusuf“-Trilogie. Teil eins „Yumurta/Ei“ war in der Bundesrepublik bisher nicht zu sehen – es gibt ihn aber in einer ausgezeichneten Doppel-DVD-Edition von Kanal D, sogar mit deutschen Untertiteln.
Die Trilogie erzählt wird die Lebens-geschichte Yusufs rückwärts – vom Erwachsenen zum Kind: „Bal“: Yusuf ist ein Einzelgänger mit ernstem Blick in die noch überschau-bare,aber geheimnisvolle Welt voller Angst, aber auch voller Wunder. Yusuf stottert, wenn er unter Druck gerät. Etwa in der Schule wenn er vorlesen soll. Deshalb hält er meistens lieber den Mund. Mit großer Liebe und Verständnis unterstützt ihn sein Vater. Ruhe und immense Sensibilität sind auch die Stilmittel, mit denen sich der Film einer Persönlichkeit nähert, die bereits als Kind nicht in gängige Muster passt. Die Kamera wechselt zwischen Weite und der Nähe zu Yusuf (von einem hinreißenden kleinen Jungen gespielt). Etwa wenn er in der Schule trotz größter Mühe, an einem Text aus der Fibel scheitert. In langen Einstellungen, die auf Details achten lässt. Heutzutage etwas Seltenes. Das Ganze verortet in einem Waldgebiet an der türkischen Schwarzmeerküste. „Bal“ handelt mithin von der Kindheit eines hochbegabten Intellektuellen, der sich – weil er zu gescheit ist – mitunter selbst im Weg steht. Ein Schicksal, das Yusuf durch alle drei Filme begleitet. Manche Frage, die die beiden anderen Teil offen ließen, sind jetzt geklärt. Wenn ich in der Jury das Sagen hätte, müsste „Bal“ in diesem Jahr den Goldenen Bären bekommen. – Auch in Anerkennung des Aufbruchs im Türkischen Film zu neuen künstlerischen Ufern mit einem unverwechselbaren Stil. Interessanter Weise sind hier nicht nur französische (Eric Rohmer) und griechische (Theo Angelopoulos) sondern auch iranische Einflüsse (Abbas Kiarostami) zu entdecken. Bei der Berlinale gab es dazu heute Anschauungsunterricht:
Am Nachmittag stand der neue Film von Rafi Pitts auf dem Programm: „Der Jäger“, der im April unter dem Titel „Zeit des Zorns“ sogar in den hiesigen Kinos startet. Der vom Regisseur selbst gespielte Ali arbeitet als Wachmann in einem Industriebetrieb. Weil er im Gefängnis war, bekommt er nur die Nachtschicht zugeteilt. Tagsüber geht er auf die Jagd. Dann werden seine Frau und Tochter Collateralopfer bei einer Straßenschlacht zwischen Oppositionellen und der Polizei. Nach einer kafkaesken Suche durch die Amtsstuben, erschießt Ali zwei Polizisten und flieht in den Wald. Wie bei Yusuf und seinem Vater in Kaplanoglus Film, ist auch hier dem Frieden unter Bäumen nicht zu trauen. Im iranischen Forst gibt es erst recht kein Entkommen. Pits drehte mit „Der Jäger“ einen wütenden filmischen Kommentar auf die innenpolitischen Situation im Iran. Natürlich konspirativ hinter dem Rücken der Zensur mit deutschem Geld. Der Regisseur lebt wohlweislich in Frankreich. Die Reaktion aus Teheran ließ nicht lange auf sich warten: Jafar Panahi („Der Kreis“) – ebenfalls einer der renom-miertesten iranischen Regisseure – wurde heute die Ausreise verweigert. Auf Einladung der Berlinale sollte er im Rahmen des „World cinema fund days“ zum Thema „Iranisches Kino: Gegenwart und Zukunft. Erwartungen innerhalb und außerhalb des Landes“ einen Vortrag halten. Nachdem man Pitts nicht habhaft werden kann, musste wohl ein Kollege herhalten. Nichts Neues aus dem Staat der Gottesfürchtigen, die kein Pardon kennen. Ein Besorgnis erregender Zustand allerdings, der die Brisanz von „Der Jäger“ unterstreicht. Das wird die Jury bei der Preisvergabe am kommenden Wochenende bedenken müssen. Vom Politischen einmal abgesehen, ist „Der Jäger“ auch künstlerisch ein Meisterwerk.