Auf die Filmfestspiele von Cannes waren im Mai 1968 die Pariser Studentenproteste übergeschwappt. Aus Solidarität erzwangen Filmemacher wie Jean-Luc Godard und Louis Malle den Abbruch des Festivals. Ähnliches hatte man auch für die damals noch im Sommer stattfindenden Berliner Filmfestspiele erwartet. Von wenigen Ho-Ho-Ho Chi Minh skandierenden Grüppchen vor dem Zoo-Palast herrschte aber Ruhe an der Spree. Der „Sturm“ kam zwei Jahre später und war hausgemacht. Der Gründer und seit zwanzig Jahren amtierende Festivalleiter Alfred Bauer hatte ein gebrochenes Verhältnis zu den damals jungen deutschen Filmemachern. Während Nachwuchsregisseure wie Alexander Kluge, Werner Herzog oder Volker Schlöndorff bereits in Cannes und Venedig prämiert wurden, setzte die Berlinale weiterhin auf Hollywood.
Nachdem es nicht mehr zu umgehen war, kam 1970 mit „o.k.“ von Michael Verhoeven ein deutscher Film ins offizielle Wettbewerbsprogramm. Inhaltlich wie dramaturgisch gewagt, übte sich der Filmemacher in Agitprop und versetzte den Krieg von Vietnam ins bayerisch Gleichnishafte. Das hörte sich so an: Verhoeven „verfremdete“ – wie man damals zu sagen pflegte – in „o.k.“ einen Vorfall aus dem Jahr 1966, der eine Initialzündung für die welt-weiten Anti-Vietnam-Proteste gewesen ist. In dem einem kleinen Dorf My Lai hatten GI’s vergewaltigt und gemordet: Vor allem diese Passage stieß dem Jurypräsidenten der Berlinale 1970 George Stevens sauer auf. Dem amerikanischen Regisseur hatten Filme wie „Giganten“ und „Ein Platz an der Sonne“ zu internationalem Ruhm verholfen.
Nach heftigen Diskussionen innerhalb der Jury verlangte Stevens, „o.k.“ aus dem Wettbewerb zu entfernen. Es handle sich dabei um antiamerikanische Propaganda und laufe somit dem Gedanken Völkerverständigung entgegen, einem der vornehmsten Ziele der Berlinale. Durch eine gezielte Indiskretion wurde dieses Ansinnen öffentlich. Die Aufregung war groß, das Management der Berlinale versagte blamabel. Die meisten Beiträger zogen aus Protest ihre Filme zurück. Das Festival ging in heftigen Diskussionen unter und wurde zum ersten und bisher einzigen Mal abgebrochen. Es gab auch keine Bären, dafür aber eine grundlegende Reform der Festspiele.
Zu den wichtigsten Veränderungen gehörte die Installierung einer zweiten Festival-Sektion, das „Internationale Forum des jungen Films.“ Sie gab der „Berlinale“ eine neue Dimension, indem hier bisher unbekannte Regionen des Weltkinos – von Afrika bis Südostasien – für das Festival erschlossen wurden. So hat die peinliche Affäre um einen unbedeutenden kleinen Film, den heute keiner mehr kennt, wesentlich zum immerwährenden Renommee der Berliner Filmfestspiele beigetragen.
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