Die Zahl der zahlenden Besucher der „63. Internationalen Filmfestspiele Berlin 2013“ ist gegenüber dem Vorjahr wieder gestiegen. Das mehrt den Ruhm der Berlinale als größtes Publikumsfilmfestival der Welt. Das ist schön! Weniger schön, die Programmierung des Filet-Stücks, dem Wettbewerb um die Goldenen und Silbernen Bären. Der stellte in diesem Jahr selbst die Frustrationstoleranz selbst von jenem auf eine harte Probe, der sich bisher als Fan von Dieter Kosslick verstanden hat. Egel welchen Zwängen ein Festivaldirektor unterliegt, was in den letzten zehn Tagen im Berlinale-Palast geboten wurde, wäre in seiner Mehrheit nicht einmal bei der Auswahlkommission der Filmtage Emden auf Gegenliebe gestoßen. Von meist enervierenden Lichtspielen tagelang gequält, neigt der Berlinale-Gänger aus purem Leidensdruck heraus zur Unsachlichkeit….
Was will man als Festivaldirektor machen, wenn die Wirklichkeit mit einem amtsmüden Stellvertreter Gottes auf Erden und Pferd in der Lasagne aus der Tiefkühltruhe die Sensationen der Traumfabrik mühelos überholt? Man nimmt wacker den Kampf auf! Zum Beispiel mit einem Film, der lehrt, dass Multis einen schlechten Charakter haben und den kleinen Mann über den Tisch ziehen: „Promised Land“ heißt das Werk, mit dem Dieter Kosslick zu Beginn der diesjährigen Berlinale zur Volksbildung beigetragen hat.
Dummerweise befindet sich Regisseur Gus Van Sant bei „Promised Land“ nicht auf der Höhe seiner Kunst und deshalb hätte der Film aussortiert gehört. Das verbindet ihn mit einer Reihe anderer Beiträger zum diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs um die Goldenen und Silbernen Bären.
Etwa mit dem südkoreanischen Star-Regisseur Hong Sangsoo, der am Ende vom Lied der „63. Internationalen Filmfestspiele Berlin“ in „Nobody’s Daughter Haewon“ eine etwas exaltierte junge Dame durch Seoul stromern lässt. Immerhin hat der Film eine hübsche kleine Episode am Anfang mit Jane Birkin als Gast.
A propos Gastauftritte: Französische Diven gaben sich in den letzten zwei Wochen in Berlin die Klinke in die Hand: Auf dem Roten Teppich machten sie eine gute Figur. In den Filmen leider weniger: Juliette Binoche verkörpert die Titelrolle in „Camille Claudel 1915“ ziemlich nah an der Rampe, als sei ihr Sarah Bernhardt im Traum erschienen. Eine sichtbar indisponierte Catherine Deneuve will in „Elle s’en va“ eigentlich nur Zigaretten einkaufen – kommt dann aber von der Hochbahn zur grünen Seife…
Für einen besonders lustigen Moment der Filmfestspiele sorgte schließlich Isabelle Huppert in der überaus braven Neuverfilmung von „Die Nonne“: wenn sie als lesbische Mutter Oberin zur Novizin Simone ins Bett jumpt. Einfach köstlich!
Hier zeigt sich, dass Dieter Kosslick ein humorvoller Mensch ist, mit einem Hang zum unfreiwillig Komischen. Deshalb hat er nicht nur „Die Nonne“ ausgesucht, sondern auch verquere Lichtspiele wie „The necessary Death of Charlie Countryman“, der daheim in Amy-Land bereits für Hohn und Spott sorgte: Da schwitzt nicht nur Teeny-Schwarm Shia LaBeouf, blickt Mads Mikkelsen gewohnt finster! Nein, da gibt unser Til Schweiger für fünf Minuten einen rumänischen Killer. Wenn er sich als „I’m Drako“ verstellt, ist das zum niederknien komisch!
Da sagt sich der Film- und Menschenfreund fatalistisch: Nur wer in den Abgrund blickt, weiß die Höhen zu schätzen. Nach diesem Motto servierten die Berliner Filmfestspiele auch cineastische Feinkost: Dazu gehört die faszinierende Emigrationsparabel „Pardé“ des iranischen Dissidenten Jafar Panahi, „Child’s Pose“ aus Rumänien oder „Harmony Lessons“ das fulminanten Debut des kasachischen Regisseurs Emir Baigazin. Für die internationale Jury mit dem chinesischen Regisseur Wong Kar Wai ergab das eine handliche Kandidatenauswahl für die Preise.
Und so fielen die Ergebnisse dann auch aus: der „Goldene Bär“ für Celin Peter Netzer und seine Zustandsbeschreibung rumänischer Gegenwart! Netzer ist übrigens als Emigrantensohn in Stuttgart aufgewachsen, bis er erst zum Studium und dann dauerhaft nach Bukarest zurück ging. Jetzt kommt er nur noch um seine Eltern zu besuchen. Auch die anderen Preisen bewegen sich im Rahmen des Vorhersehbaren: Silber für Kasachstan und den beklemmenden Blick des bosnischen Regisseurs Danis Tanovic auf die alltägliche Diskriminierung der Roma in seinem Heimatland. Ebenso für Panahi.
Am Ende der „63. Internationalen Filmfestspiele Berlin 2013“ sollte sich Dieter Kosslick dringend in Klausur zurückziehen und darüber nachdenken, wie es sein kann, das in sämtlichen Nebenreihen die Tops die Flops dominieren und beim internationalen Wettbewerb das Verhältnis umgekehrt ist. Wenn Berlin weiterhin in der ersten Liga europäischer Filmfestivals mitspielen will, sollte der Herr Direktor endlich die Reißleine ziehen und sich ans Umdenken machen!