Man kann auch bei dieser Berlinale nicht umhin: der deutsche Film ist nicht zu übersehen und wird auch international mit wachsendem Interesse wahrgenommen. Am Dienstagabend wurde die Uraufführung von „Boxhagener Platz“ im Friedrichstadtpalast bejubelt. Der vor allem für seine gelungenen Fernsehspiele bekannte Matti Geschonneck hat hier ausnahmsweise einmal fürs Kino gearbeitet (Start: 4. März 2010). Nach dem Roman von Torsten Schulz (sehr lesenswert/gibt es von Ullstein als Taschenbuch), der auch das Drehbuch geschrieben hat, blendet „Boxhagener Platz“ in den DDR-Alltag von 1968 zurück.
Eine resolute ältere Dame (sechs Männer sind ihr davongestorben, den siebten lernt sie auf dem Friedhof kennen), ihr wacher Enkel, die Stasi und einer in der Seele geknickter VoPo sind das Personal dieser Komödie am Rand zur Tragödie. Ohne ins Nostalgische zu rutschen, inszenierte Geschonneck (der Sohn des großen Mimen Erwin) eine genau beobachtete Alltagsstudie mit einer sensationellen Besetzung: Gudrun Ritter – über Jahrzehnte der Star des Deutschen Theaters – zusammen mit Michael Gwisdek und anderen Schauspielergrößen machen „Boxhagener Platz“ auch in dieser Beziehung zum Genuss!
Weniger heiter geht es in „Shahada“ von Burhan Qurbani zu. Direkt von der Filmakademie Baden-Württemberg in den Wettbewerb eines A-Festivals ist an sich schon eine reife Leistung. Auch formal setzte der Jungregisseur gleich hoch an. Mit einem Episodenfilm in mehreren Kapiteln. Wobei die einzelnen Handlungsstränge mit einander verwoben sind. Schicksalhaft. Da ist der deutsch-türkische Polizist Ismail, der bei einem Einsatz einen harmlosen Dieb und dessen kleines Kind erschossen hat. Als Akt der Wiedergutmachung fängt er mit der Frau des Toten ein Verhältnis an, bewahrt sie bei einer Razzia vor der Abschiebung.
Ebenso wie die Frau arbeitet der Afroamerikaner Sammi auf dem Großmarkt. Er ist schwul und hat eine enge Beziehung zu Daniel. Dadurch kommt der gläubige Muslim in Gewissenskonflikt. Im Laufe des Films kündigt er dem Deutschen die Freundschaft auf. Maryam, eine bisher kesse junge Türkin hat abgetrieben. Jetzt quälen sie Schuldgefühle.
Es ist ein Weinen in der Welt, steht in der Bibel und so ähnlich auch im Koran. Ebenso das Versprechen, im Glauben Trost zu finden – in Zeiten der Angst und des Schreckens. „Es gibt keinen Gott außer Allah und Muhammand ist sein Prophet“. Die kurze Formel der Shahada als Thema eines Films:
Der in Afghanistan geborene und der Bundesrepublik aufgewachsene Filmemacher Burhan Qurbani hat das Verhältnis seiner Generation zum muslimischen Glauben in der Diaspora zum Thema seines Films gemacht. Aus dem Leben zwischen Welten und unterschiedlicher Kulturen hin zu den Wurzeln. Doch so einfach wie die Shadada, das Glaubensbekenntnis über die Lippen geht, so schwierig ist das Leben damit. Qurbani zeigt das am Verhältnis der verstörten Maryam, die sich in ihrer persönlichen Krise dem orthodoxen Islam zu wandte und ihrem Vater, einem liberalen Imam.
Zum ersten Mal in der Bundesrepublik wurde in „Shahada“ ein filmischer Diskurs über das Verhältnis junger Muslime zu ihrem Glauben versucht. Man merkt dem Drehbuch das ernsthafte Bemühen der 29jährigen Regisseurs an, seinen Figuren Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. „Shahada“ lenkt den Blick auf eine wichtige theologisch-gesellschaftliche Frage, die bisher so gut wie keine Beachtung in der multikulturellen Auseinandersetzung fand. Insofern ein verdienstvoller Film. Ob sich Qurbani damit als Filmemacher für sein Debut formal nicht zuviel zugemutet hat und dabei gelegentlich hilflose Abstecher in die „Lindenstraße“ macht, ist eine andere Frage. Ebenso, ob man ihm einen Gefallen getan hat, „Shadada“ auf dem glatten Parkett des „Internationalen Wettbewerbs“ der Berlinale zu präsentieren. Vielleicht wäre das „Forum“ oder die Reihe „Perspektiven deutscher Film“ der angemessenere Programmplatz gewesen.