Ein Film aus dem Nachlass wird heute Abend nach der „Palmen“- Gala das „65. Festival de Film“ beschließen. Eine Verbeugung vor dem im April verstorbenen Regisseur Claude Miller. In Frankreich, weniger im Ausland, einer der populärsten Filmemacher der Nach-Nouvelle-vague-Ära: als Regie-Assistent von Marcel Carné, Robert Bresson und Francois Truffaut hat er angefangen. Nach Truffauts Tod galt Miller als dessen Nachfolger als Regisseur, der sich ganz besonders darauf verstand, Frauen in den Mittelpunkt seiner Filme zu stellen. Von Romy Schneider („Das Verhör“,1981) über Isabelle Adjani („Das Auge“, 1983) bis zu Charlotte Gainsbourg. Die damals 15jährige hat Miller 1985 für „Das freche Mädchen“ entdeckt und anschließend mit „Die kleine Diebin“ (1988) vollends zum Star gemacht. Obwohl bereits schwer krank, wagte er sich im vergangenen Jahr an die Adaption eines besonders schwierigen Stoffes der französischen Frauenliteratur des 20. Jahrhunderts: „Thérése Desqueyroux“, den Francois Mauriac 1928 veröffentlicht hat. In der Titelrolle Audrey Tautou. Das Film wird in Cannes postum uraufgeführt und soll im Herbst in Frankreich in die Kinos kommen.
Thérése Larroque gehört zu einer angesehenen Familie auf dem Landes in der Nähe von Bordeaux. Als einziges Kind wird sie einmal die ausgedehnten Ländereien und schönen Pinienwäldern erben. Was liegt da näher, als den ebenfalls begüterten Nachbarssohn Bernard Desqueyroux (Gilles Lellouche) zu heiraten, zumal Thérése mit seiner Schwester Anne (Anais Demoustier) eine enge Freundschaft verbindet.
Zunächst geht das Leben im weitläufigen Anwesen der Schwiegereltern seinen beschaulichen Gang. Thérése akzeptiert die Jagdleidenschaft ihres Gatten und dessen Schwester, obwohl sie die damit verbundene Brutalität abstößt.
Ein Skandal bahnt sich an: Anne hat sich in den Studenten Jean (Stanley Weber) aus dem Dorf verliebt. Allein der Standesunterschied wäre bereits zuviel des Guten. Dass Jean außerdem noch Jude ist, macht die Angelegenheit vollends degoutant. Anne wird erst einmal in eine Art Verbannung geschickt. Vorher bittet sie Thérése zu Jean Kontakt zu halten.
Das hat fatale Folgen: der gebildete junge Mann öffnet Thérére die Augen, was für eine Dumpfbacke, sie sich mit ihrem Bernard eingefangen hat. Ohne das der davon vor lauter Jagd-und Landwirtschaft etwas mitbekommt, entfernt sich Thérése immer weiter von ihm. Auch ein ge-meinsames Kind kann an der fortschreitenden Zerrüttung der Ehe nicht mehr retten.
Bernard dämmert inzwischen, dass zwischen ihm und seiner Frau etwas nicht stimmt; angebliche Herzprobleme sollen sie zu seiner Retterin machen und ihm damit wieder näher bringen. Ein Waldbrand verschlimmert die gespannte Lage und bringt Thérese auf die Idee, sich Bernards durch eine Übermedikation zu entledigen.
Doch so einfach geht das nicht; sie wird des versuchten Gattenmordes überführt. Aber da den Desqueyrouxs der makellose Ruf der Familie über alles geht, wird das Verfahren gegen Thérése unter den Teppich gekehrt und die Delinquentin zur Buße im Haus wie eine Gefangene gehalten…
„Thérése Desqueyroux“ als Schwester im Geiste von „Madame Bovary“ und „Effi Briest“ macht es dem Leser und damit auch der Filmadaption nicht leicht; sie ist kein Engel und nimmt das behütete Nest zunächst gerne an – erst eine unbestimmte Sehnsucht nach Freiheit, lässt sie den Ausbruch versuchen.
Francois Mauriac geht es in seinem Roman neben der Emanzipation seiner Heldin um die gnadenlose Beschreibung einer bigotten Feudalgesellschaft, die den Geist der Humanität nicht im Entferntesten kennt und den Aufbruch der Gegenwart verschläft. Selbst ein flammendes Fanal vermag sie nicht aufzuwecken. Mauriac gehörte zu den frühen Warnern vor dem Verhängnis durch den Faschismus.
So unbekümmt wie sie Protagonisten mit dem Leben der Tiere umgehen, verhalten sie sich auch gegenüber ihren Mitmenschen. Anne schießt eine Taube an; herzt das Tier wie ein Spielzeug, um ihr dann eiskalt den Hals umzudrehen… Zu spät erkennt Thérése, auf was sie sich da aus Bequemlichkeit eingelassen hat.
Freilich, „Thérése Desqueroux“ könnte auch ein praller Stoff fürs Kino sein. Für Claude Miller sicher wie geschaffen und für Audrey Tautou, um sich endgültig von ihrem „Amélie“-Backfisch-Image zu verabschieden. Das ist auch alles höchst adrett in Szene gesetzt – in Kostümen der End1920er Jahre. Doch so ganz und gar mag das Ganze filmisch dann doch nicht zu überzeugen.
Das typische Elend von Literaturverfilmungen: Die angebliche Werktreue verstellt den Blick darauf, das Literatur und Film eigentlich feindliche Geschwister sind. Es einigen Mutes bedarf, gerade einen Stoff des Nobelpreisträgers von 1952, Francois Mauriac“ nicht Wort für Wort, sondern in seinem Geist zu verfilmen.
Claude Millers „Thérése Desqueroux“ gehört zu jenen langweiligen Klassikerverfilmungen („Heimkehr“, „Effi Briest“, „Buddenbrooks“), mit denen vorzugsweise das deutsche Fernsehen an gesetzten Feiertagen zur Primetime den Bildungsbürger beglückt. Nach der Devise: Bloß nicht anecken…
Erschwerend kommt bei Millers Arbeit hinzu, dass es bereits 1962 eine stilbildende „Thérése Desqueroux“-Verfilmung unter der Regie von George Franju gegeben hat, an deren Drehbuch Mauriac selbst wesentlich mitarbeitete. Mit Emmanuelle Riva (Thérése) und Philippe Noiret (Bernhard) intensiver besetzt, als mit dem blassen Ensemble des Remakes. Ganz zu schweigen von Maurice Jarres berühmtem Soundtrack, im Vergleich mit dem müden Klaviergeklimper in Millers Version.
Auch die Farbe und der ungeschickt digital animierte Waldbrand bringen keinen Mehrwert gegenüber der gnadenlosen Abgründigkeit, mit der George Franju seine „Thérése Dequeyroux“ vor 50 Jahren in der reinsten Kunst der Nouvelle Vague verfilmt hat. Es gibt den Film leider im Moment nirgends auf DVD – aber komplett und kostenlos online im Internet – mit allen üblichen Risiken und Nebenwirkungen…
Die Nachwirkung Claude Millers wird sicher nicht an seinem müden Alterswerk nach Mauriac gemessen werden – er hat in seinem Leben Besseres gemacht. Aber als Abschlussfilm außer Konkurrenz beim Festival de Cannes ist der Film trotzdem keine schlechte Wahl…