Anfang der 1950er Jahre war es auch beim Süddeutschen Rundfunk – heute SWR – in Stuttgart soweit: die „Zeichen der Zeit“ verwiesen auf ein neues Medium: das Fernsehen. Im Sommer 1953 wurde am Bodensee das erste SDR-Fernsehspiel gedreht: „Man erholt sich“. Das Drehbuch stammte von Peter Adler und Martin Walser. Beide hatten sich bereits im Hörfunk des Senders bewährt. Überhaupt sah sich Intendant Fritz Eberhard bei seiner Suche nach Talenten zum Aufbau der neuen Fernsehabteilung erst einmal beim Radio um. Fernsehgeschichte machte der „Südfunk“ mit der Gründung einer selbständigen „Dokumentarfilm“- Abteilung. Die wichtigsten Produktionen der „Stuttgarter Schule“ gibt es jetzt in einer vorzüglichen DVD-Edition „Zeichen der Zeit – Beobachtungen aus der Bundesrepublik (1956-1973)“ von Absolut Medien. Sie wurde von dem Dokumentarfilm-Exeperten Kay Hoffmann kuariert.
Hoffmann schreibt in der Einleitung zum umfangreichen Booklett: „Neben ihrer fernsehhistorischen Bedeutung sind die Filme anschauliche Dokumente der Zeitgeschichte. Die Edition ZEICHEN DER ZEIT umfasst den Zeitraum vom Beginn der Adenauer-Ära bis zur Studentenbewegung und damit die frühen Jahrzehnte der Bundesrepublik.“
Die Stuttgarter Dokumentarfilmer der ersten Stunde wollten nicht allein formal Neuland betreten, sondern auch politisch etwas bewirken. Eine der ersten Südfunk-Produktionen war „Die Vergessenen“ von Peter Dreessen und Peter Adler.
Sie deckten die skandalösen Verhältnisse auf, unter denen jüdischen Holocaust-Überlebende in Frankreich zu leiden hatten. Der Film hatte Folgen: der Deutsche Bundestag beschloss außerplanmäßig eine Million Mark zum Bau eines Wohnheims zur Verfügung zu stellen. Nicht immer war das Verhältnis der Stuttgarter Redaktion zur offiziellen Politik derart ungetrübt wie bei „Die Vergessenen“.
Heftige Abwehrreaktionen aus Bonn folgten auf die Ausstrahlung von „Die deutsche Bundeswehr“ am 16. Oktober 1966 – dem Tag des Amtsantritts von Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß. Heinz Huber hatte einen pointiert investigativen Film gedreht, der sich äußerst kritisch mit der deutschen Wiederbewaffnung beschäftigte. Zur heute kaum vorstellbaren Reaktion des Senders stellt Kay Hoffmann fest:
„Zu den vielen Vorwürfen nahmen sowohl Heinz Huber als auch der Intendant Fritz Eberhard direkt Stellung. Der Intendant organisierte drei Wochen nach der Ausstrahlung eine hochkarätig besetzte Disskussionsrunde mit Verteidigungsminister Franz Josef Strauß, Oberst Graf Baudissin, Major Schümckler, dem Redakteur der Süddeutschen ZeitungErich Kuby, Martin Walser, Heinz Huber und ihm selbst als Diskussionsleiter“.
Das Transkript der Gesprächsrunde befindet sich als PDF im Bonusteil der DVD.
Nicht nur Fernsehgeschichte, sondern Filmgeschichte machte 1967 der „Zeichen der Zeit“- Beitrag „Der Polizeistaatsbesuch. Beobachtungen unter deutschen Gastgebern“ von Roman Brodmann:
Auch dieser Film löste in der westdeutschen Öffentlichkeit eine ausführliche Debatte über die Grenzen und Möglichkeiten der TV-Berichterstattung aus. Zum Hintergrund informiert Kay Hoffmann ebenfalls im Booklet:
„Ursprünglich war er als ironisch glossierende Beobachtung der Reise des Schahs von Persien durch die Bundesrepublik geplant. Der Aufwand eines Staatsbesuches und die ‚katzbuckelnde Unterwürfigkeit der Gastgeber‘ sollten gezeigt werden.“
Doch es kam anders. Durch die Studentenproteste in Berlin gegen den Schahbesuch und die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg, wurde aus der Glosse eine politische Dokumentation, die auch heute noch nichts von ihrer beklemmenden Beschreibung der Verhältnisse verloren hat.
Die Stuttgarter Dokumentarfilmer interessierten sich grundsätzlich für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Dabei gelangen Dieter Ertel und Georg Friedel mit „Schützenfest in Bahnhofs-nähe – Beobachtungen auf dem Dorfe“ von 1961 beunruhigende Blicke hinter die Kulissen.
„Schützenfest in Bahnhofsnähe“ gilt als ein Hauptwerk der „Stuttgarter Schule“: auf die Ausstrahlung folgten ebenfalls heftige Proteste von Seiten der Schützenvereine, die sich durch den Film verunglimpft fühlten. Stein des Anstoßes war unter Anderem die filmische Verbindung zwischen Schützen-Aufmarsch mit dem einer Gänsefamilie.
Selbst Sujets, die auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen, wurden unter der Hand der Filmemacher zu spannenden Beschreibungen der allgemeinen Gefühlswelten in der Bundes-republik. So „Die Borussen kommen. Beobachtungen bei der Bundesliga“ von Wilhelm Bittdorf von 1964.
„Die Fußball-Bundesliga wurde erst 1963 ins Leben gerufen; erster Spieltag war der 24. August. In diesem Jahr hieß der Deutsche Meister Borussia Dortmund. Wilhelm Bittdorf wollte mit seinem Film der Frage nachgehen, ‚wie, warum und wohin die Beine der Bundesliga laufen‘ und hat sich exemplarisch diesen Verein aus dem Ruhrgebiet herausgegriffen“, schreibt Kay Hoffmann im Booklet. „Die Borussen kommen“ gilt inzwischen als stilbildendes Beispiel für die Entwicklung der Fußball-Reportage im Fernsehen.
1964 drehte Peter Nestler für den SDR „Ödenwaldstetten. Ein Dorf ändert sein Gesicht“. Einer der zukunftsweisenden Dokumentarfilme der 1960er Jahre, in dem die Frage nach dem Wert von Heimat und ihr Verlust gestellt werden. Ironisch gebrochen durch die Musik von Dieter Süverkrüp.
Mitte der 1970er Jahre verschwanden die „Zeichen der Zeit“ nach und nach aus dem Fernsehprogramm. Die Redaktion im Stuttgarter Sender dünnte aus.
Die wichtigsten Filme der „Stuttgarter Schule“ auf fünf, nach Themen geordneten DVDs im Schuber mit Booklet. Im Bonusteil unter Anderem die Dokumentation „Das Beste an der ARD sind ihre Anfänge – Die Stuttgarter Schule“ von Alexander Kluge und Meinhard Prill.Die vordienstvolle Edition ist bei Absolut Medien erschienen und kostet 69.90 €
Zum Nachhören: die Sendung zum Thema aus der Reihe cont.ra DVD:[media id=232 width=320 height=20]