FILM & SCHRIFT – Band 11
Herausgegeben von
Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen
Edition text + kritik 2010, 322 Seiten – 22 €
„Als Vaters Bart noch rot war“ gehörte um 1960 in jeden gut sortierten bundesrepublikanischen Bücherschrank. Sein Autor Wolfdietrich Schnurre wurde als genauer Beobachter geschätzt, der die Welt in einer Mischung aus ungläubigem Staunen und Ärger über die Ungerechtigkeit der Verhältnisse reflektierte. In seinem nach wie vor populärsten Buch werden aus der Perspektive eines halbwüchsigen Jungen die gar nicht „goldenen“ Zwanziger Jahre in Berlin beschrieben. Dabei spielt der titelgebende (allein erziehende) Vater eine Schlüsselrolle. Das dass Gründungsmitglied der „Gruppe 47“ auch einmal seine Brötchen als Filmkritiker verdiente und 1950 die die Streitschrift „Rettung des deutschen Films“ verfasst hat, ist inzwischen glatt „vergessen“ worden.
Die Gedächtnislücke wird mit „Wolfdietrich Schnurre, Kritiker“ aus der bei „text + kritik“ erscheinenden Reihe „Film & Schrift“ geschlossen. Die Herausgeber Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen haben wieder vorzügliche Arbeit geleistet: das gilt auch für den einleitenden Essay von Jörg Becker. Hier kann man einen ganz anderen und doch wieder ganz typischen Schnurre kennen lernen, von dem Marcel Reich-Ranicki sagte, er sei „ein schwieriger Einzelgänger“. Dieser schwierige Einzelgänger war nicht nur Literat, sondern auch Kinogänger. Der scharfsinnige Beobachter sah bereits angesichts der ersten deutschen Nachkriegsproduktionen, wie da ein alter Zopf weiter geflochten wurde. Selbst der inzwischen als film-und zeitgeschichtlich wichtig angesehene „Die Mörder sind unter uns“ von Wolfgang Staudte wurde von Schnurre nicht sonderlich geschätzt. Anderen so genannten „Trümmerfilmen“ ging es in seinen Besprechungen nicht besser, die er Ende der 1940er Jahre in verschiedenen Berliner Zeitungen veröffentlichte: Im März 1948 schrieb er zum Beispiel: „Am herbsten enttäuschte wohl Helmut Käutner, der mitschuldig am Drehbuch des Films „Film ohne Titel“ ist. In ihm glaubte man nach seinem sauberen Versuch „In jenen Tagen“ so etwas wie einen konzessionslosen Avantgardisten des deutschen Nachkriegsfilms sehen zu dürfen. Gefehlt. Statt der eigenen Inspiration zu folgen, schauen Käutner und seine Mitautoren dem Publikum aufs Maul. Statt einen Film zu machen, der durchweht ist vom Atem der Wirklichkeit, servieren sie eine rückgratlose formale Spielerei, ein verschwommenes Konglomerat abgestandener Ufa-Reminiszenzen.“
Es sollte noch schlimmer kommen! In weiser Voraussicht verfaßte Wolfdietrich Schnurre aus purem Leidensdruck seine „Streitschrift“ „Rettung des deutschen Films“, bevor er sich von der Filmkritik zurückzog und zum vielgelesenen Schriftsteller wurde. Verdienstvoller Weise ist sie in dem Buch „Wolfdietrich Schnurre. Kritiker“ komplett abgedruckt worden, nachdem sie ein halbes Jahrhundert nicht mehr greifbar gewesen war. In seinem rigorosen Pochen auf Qualität und Originalität erweist sich Schnurre damit als einer der Vordenker des „Jungen deutschen Films“, des „Oberhausener Manifestes“ und vielem, was die Autoren der „Filmkritik“ Jahre später formuliert haben. Joe Hembus dachte Schnurre elf Jahre später in „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“ einfach weiter, als er auf die Frage „Was ist los mit dem deutschen Film?“ antwortete: „Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben“.
Das es dem deutschen Film trotz gelegentlicher Rückfälle besser geht, ist kompromisslosen Mahnern wie Wolfdietrich Schnurre zu verdanken. Umso aufmerksamer sollten nicht nur heutige Filmkritiker, sondern die ganze Branche diese Werkauswahl des „unbekannten“ bzw. vergessenen Filmkritikers Wolfdietrich Schnurre aufmerksam lesen und sie sich für alle Fälle unters Kopfkissen legen. Auf manche deutsche Produktionen der letzten Monate passt: „Abermals eine herbe Enttäuschung. Allerdings diesmal eine, die sich voraussehen ließ: neun Prominente auf einem Streifen – das musste ins Auge gehen….“
Wer denkt da nicht an „Henri 4“ – der übrigens bis jetzt lediglich 40 000 Besucher in die Lichtspielhäuser lockte. Andererseits – Jo Baier und Regina Ziegler zum Troste – ist es möglich, dass der heutige Flop in 65 Jahren als Klassiker des deutschen Kinos gefeiert wird …
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