Bibliotheken füllen inzwischen die Bücher von und über Schriftsteller, die von den Nazis aus Deutschland vertrieben wurden. Filmische Annäherungen an diese Odyssee sind dagegen selten. Nicht ohne Grund: Weg und Leben im Exil sind komplex und schwierig darzustellen. Es geht dabei um die faschistische Kulturbarbarei im Allgemeinen, die Flucht vor direkter physischer Vernichtung, den Verlust von Heimat und den mehr oder weniger erfolgreichen Versuch, eine neue Existenz im Ausland aufzubauen im Besonderen. Selbst international bekannte Autoren wie Thomas Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger oder Stefan Zweig litten unter den Verhältnissen des Exils. Während Mann, Werfel und Feuchtwanger in Los Angeles zumindest ohne materielle Sorgen im Vergleich zu den meisten anderen Exilanten komfortabel lebten, hat Stefan Zweig Südamerika den Vorzug gegeben – auch er ein Geldsorgen lediger Bestsellerautor. Über ihn und seinen Zerbrechen am Exil hat Maria Schrader ihren Film „Vor dem Morgenrot“ gedreht.
Zweig, den gefeierten Autor, zog es nach Brasilien – zu den deutschen Exil-Gruppen in den USA hält der scheue jüdisch-österreichische Schriftsteller Distanz. Er kann auch im Exil mit Erfolg schreiben – in Brasilien entsteht mit „Die Schachnovelle“ sogar eines seiner bekanntesten Bücher. Trotzdem wird sich Stefan Zweig zusammen mit seiner zweiten Frau 1942 umbringen. Maria Schrader beschreibt am Beispiel Zweigs mit bewundernswerter Klarheit das ganze Ausmaß der Entwurzelung als Folge des Exils. Selbst er, der Erfolgreiche, zerbricht daran. Da braucht es gar nicht viel, um die grundsätzliche Frage zu beantworten, was es bedeutet, mit dem erzwungenen Verlust der Heimat fertig werden und in der Fremde eine neue Existenz aufzubauen. In Detail genauen Bildern macht die Regisseurin das deutlich.
„Vor dem Morgenrot“ ist ein exemplarisches Beispiel für den filmischen Umgang mit der existentiellen Herausforderung, die die Flucht aus dem sich ständig ausweitenden Machtbereich des NS-Regimes in den 1930er Jahren bedeutete. Es war eine kluge Entscheidung, sich der vergleichsweise unspektakulären Stefan Zweigs zu widmen. So bleibt Schrader und ihrem Ko-Autoren Jan Schomburg genügend Raum für die Beschreibung, das die Nazis nicht allein die Vertreibung, sondern die physische Vernichtung der deutschen Geistes-Elite im Sinn hatten. Dem Film gelingt es, die komplexe seelische und existentielle Situation Zweigs in Brasilien in den Griff zu bekommen. Ein Meisterwerk des biographischen Films und künstlerischer Höhepunkt des bisherigen deutschen Kinojahres. Kongenial Josef Haders Verkörperung Stefan Zweigs!
Übrigens empfiehlt es sich bei dieser Gelegenheit zu Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ und zu seinem „Brasilien“-Buch zu greifen…
VOR DER MORGENRÖTE Deutschland/Österreich 2016, Regie: Maria Schrader, mit Josef Hader, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Matthias Brandt – Kinostart: 2. Juni 2016