Das Solothurner Filmfestival erweist sich in diesem Jahr besonders ergiebig. Es bietet nicht nur einen umfassenden Überblick zum Film-schaffen des Landes im letzten Jahr, sondern gibt dabei einen für den Ausländer eindrucksvollen Blick in die Seelenlage der Nation – die zur Zeit mit einem wegen Devisen-Mauscheleien geschassten Nationalbank-Präsidenten auch an einem handfesten politischen Skandal zu knappern hat. Da tut der Blick auf saftige Almwiesen, hohe Berge mit gottesfürchtigen Menschen („Alpsegen“), sangesfreudigen Mannen („Die Wiesenberger“) und stämmigen Sennen gut, die sich nur im fairen sportlichen Wettkampf aufs Kreuz legen („Hosenlupf…“). Das wohltuende Panorama präsentiert allerding nur der Schweizer Dokumentarfilm. Die garstigeren Seiten der menschlichen Seele bleiben im Toblerone-Land dem Spielfilm („Der böse Onkel“, „Off Beat“, „Der Verdingbub“) vorbehalten.
„Seit ich zählen kann, zähle ich. Das hilft. Dreizehn ist meine Zahl. So oft hat mich die Mutter auf den Rücken geschlagen!“ Aus der Perspektive der 9jährigen Lilly hat die Schweizer Dokumentaristin und Autorin Alice Schmid ihren ersten Roman „Dreizehn ist meine Zahl“ (Nagel & Kimche Verlag) geschrieben, der sich nach seiner Veröffenlichung im Herbst zu einem Bestseller entwickelt hat.
In „Dreizehn ist meine Zahl“ folgt Schmid ihrem Generalthema: die Mißhandlung von Kindern durch Erwachsene in allen Schattierungen. Diesmal ist es die überforderte Mutter, die ihren Frust an der kleinen Tochter ausläßt; 1999 drehte Schmid mit teilweise versteckter Kamera Kindersoldaten in Liberia („Ich habe getötet“), wurde für ihre Kurzfilme über sexuellen Mißbrauch hoch gelobt, mit dem sie sich direkt an Kinder wandte („Sag Nein“).
Im Dezember startete in den Schweizer Kinos („Xenix-Filmverleih“) Schmids erster abendfüllender Dokumentarfilm „Die Kinder vom Napf“, der sich bereits jetzt als Publikums-Hit erweist. Das zeigte sich auch gestern Morgen in der nahezu ausverkauften Solothurner Reithalle, wo der Film zum ersten Mal vor internationalen Publikum vorgeführt wurde.
Ein Jahr hat die Filmemacherin eine Gruppe Kinder mit der Kamera begleitet, die aus Bauernfamilien stammen, deren Höfe verstreut auf dem „Napf“ liegen, einem Berg im Zentrum des Kantons Luzern in der Zentralschweiz. Sie haben täglich einen beschwerlichen Weg in die Schule im Dorf Romoos zu bewältigen.
Über 90 Minuten zeigt uns Schmid heile Welt pur: unbefangene Kinder leben ihre unbeschwerte Kindheit im Einklang mit der Natur, wachsen natürlich in die Welt der Erwachsenen hinein. Von denen man in diesem Film allerdings wenig zu sehen bekommt. Der Nachwuchs weiß, wo sein Platz ist, hilft fröhlich bei der Landwirtschaft und ist artig im Unterricht. Voller Bitterkeit räsoniert der nichtschweizer Betrachter angesichts dessen über das eigene pädagogische Versagen, wenn es darum ging, den Nachwuchs erfolglos zum Rasenmähen im Vorgarten zu bewegen…
Auf der Alm gibt es kein Murren und Quängeln, mit Begeisterung wird sogar ein Instrument gelernt und konzentriert geübt. Während sich die Mädchen im Stall bei den Hühnern nützlich machen, üben sich die Buben nach dem Akkordeon auf dem Feld schon mal im Schweizer Nationalsport „Schwingen“.
Alice Schmid stellt sich also diesmal als eine Art Johanna Spyri des Medienzeitalters vor. In „Die Kinder vom Napf“ begegnen uns lauter Heidis und Ziegenpeters – allerdings ohne die böse Frankfurter Tante Klara! Selbstredend das diese Kinder frei von neumodischem Zeugs wie Computerspielen, Handys und dem Teufelskram Internet aufwachsen; vermutlich gibt es auf dem Napf – Gott sei Lob und Dank – keinen Netz-Empfang.
Nur einmal fragt eines der Kinder den Lehrer, ob man denn auch in der Welt berühmt werden könne, wenn man aus Romoos komme. „Ei freilich“, ist die Antwort: ein Sohn des Dorfes sei ein berühmter Filmregisseur geworden, Bernhard Wicki sein Name! Na bitte! Was will man mehr…
„Ach, ist das goldig!“, freute sich eine ältere Schweizer Besucherin von „Die Kinder vom Napf“ hinter mir, ein ums andere Mal. Betroffen neigt der Kritiker dazu, ausgibig über Alice Schmids Bemühen zu lästern, den Abgründen urbaner Modernitäten ein archisches Lebenskonzept gegenüber zu stellen. Man mag den „goldigen“ Kindern wünschen, dass sie sich ihre Naivität bis ins hohe Alter eines Alm Öhi erhalten mögen. Aber wehe dem, der über den „Napf“-Rand spicken will und den Verlockungen der „modernen Welt“ erliegt… Da wird es wohl aus sein mit der Hamonie im Heu. Darüber dreht Alice Schmid bestimmt in zehn Jahren „Die Kinder vom Napf – auf dem Weg ins Leben!“ In Deutschland haben „Die Kinder vom Napf“ in 14 Tagen bei den Berliner Filmfestspielen Premiere. Sie eröffnen die Sektion „Generation 14plus“.
So glückselig wie der gestrige Kinotag in Solothurn begann – so gnadenlos heftig ging er in der Nacht mit „Der böse Onkel“ von Urs Odermatt zu Ende. Obwohl ihn in der Schweizer Öffentlichkeit ein Hauch von Skandal umweht, wird er kaum Scharen von EidgenossenInnen in die Filmtheater locken.
Dabei wäre das Thema dazu durchaus angetan. Natürlich nicht am Napf, sondern vielleicht in Zürich Innenstadt: es geht um sexuellen Mißbrauch von Mädchen durch ihren Turnlehrer. Lose angelehnt an einen authentischen Fall, der vor Jahren die Gemüter im Aargau bewegte.
Im Gegensatz zur melodramatisch unterfütterten doku-fiktionalen Vorgehensweise, die bei diesem Stoff gerne vom Fernsehen benutzt wird, zog Odermatt alle Register einer schrillen Farce, wobei er mit „Schlimmen Worten“ nicht geizt:
Eine kleine Lolita gesteht der spermatogen unterversorgten Mama, das sie vom durchtrainierten Sportlehrer begrabtscht wurde. Die versucht empört einen Aufstand gegen den Pädagogen, wird jedoch bald selbst zum Ziel der Anklage und nicht der Täter. Eine Zugezogene und außerdem weiblichen Geschlechts will ein einheimisches Mannsbild mies machen. Das geht natürlich gar nicht!
Zwischen Videoinstallation und rüdem Pop-Spektakel treibt „Der böse Onkel“ mit Entsetzen nicht Scherz, sondern meint es hinter dem Bildergewitter bitter ernst. Urs Odermatt versuchte in seinem Film, nicht nur den Mißbrauch selbst in seiner Unbeschreiblichkeit filmisch in den Griff zu bekommen, sondern das gesamte gesellschaftspolitische Klima gleich mit, in dem der Mißbrauch nicht nur von Kindern, sondern allgemeiner Gefühlswelten gedeihen kann. Das macht den „Bösen Onkel“ zum bemerkenswerten Experiment! Dabei zeigt sich der versierte Filmemacher, der sich auf die Möglichkeiten des medialen Ausdrucks versteht. Vielleicht sind ihm manchmal die Gäule durchgegangen, aber insgesamt wirkt sein Film nachhaltig!
Dabei stellt Odermatt die Geduld des Zuschauers bisweilen auf eine harte Probe, hält einen aber selbst weit nach Mitternacht bei der Stange – und das will bei einem solchen Film etwas heißen!
Da hatte es This Lüscher mit „Hoselupf – Oder wie man ein Böser wird“ zur Mittagszeit leichter. In regelmäßigen Abständen entdecken Filmemacher den urigen Schweizer Nationalsport „Schwingen“. Dabei handelt es sich um eine Ringersportart, die ein bißchen ans japanische Sumo-Ringen und das türkische Ölringen erinnert. Nur das die schweizer Kompatanten dabei nicht mehr oder weniger nackt sind, sondern gesittet eine kurze stabile Hose über der normalen Kleidung tragen – deshalb auch die Bezeichnung „Hoselupf“. Ansonsten beteiligen sich an dieser Sportart vorwiegend stämmige junge Herrn aus dem Sennen-, Zimmerer-und Metzgergewerbe. Man ist gewohnt kräftig zuzulangen…
Lüscher schickte für seinen Film den ziemlich unsportlichen Kabarettisten Beat Schlatter nicht nur durch die Schwinger-Szene, sondern auch zum Training der Kampfsportart, bei der es nicht gerade zimperlich zu geht. Spurensuche nach einem sportlichen Phänomen. Trotz jahrhunderte alter Tradition handelt es sich beim Schwingen nach wie vor um einen reinen Amateursport, der im Moment allerdings durch verstärkte Medienpräsenz um seine „reine “ Form kämpft. Gegen finanzielle Hintergründe und Doping-Anmutungen.
Schlatter wird natürlich am Schluss gegen einen 16jährigen Jugend-meister verlieren, nachdem er sichtlich fasziniert in die Szene einge-tauchte.
Dabei ist Regisseur Lüscher nach Kräften dabei, das Fähnlein des aufrechten Schweizers mit viel Armschmalz aufrecht zu halten. Mann gegen Mann im kernigen Wettkampf – vor der ländlichen Majestät der Berge. Ganz wie einst der Tell! Holladijö!!!