Albert Wiederspiel hat nicht zu viel versprochen: Das Programm des „Hamburger Filmfestes 2011“ war außergewöhnlich gut. Der Bogen spannte sich vom skurrilen „Cattle“ (Regie: Emmanuel Gras) – ein Rind ganz im Hier und Jetzt auf einer Wiese; der existenzielle Idealzustand – bis zu „Monsieur Lazhar (Regie: Philippe Falardeau), einem Juwel in der gegenwärtigen Filmlandschaft. Der Arsenal-Filmverleih wird ihn demnächst in die deutschen Kinos bringen.
Multikulti aus Kanada: M. Lazhar – selbst algerischer Emigrant – unterrichtet unkonventionell traumatisierte Flüchtlingskinder. Obwohl es wenig zu lachen gibt, ein Film der beglückt. Einfach wichtig ist die ägyptische Gemeinschaftsarbeit „18 Days“ über den Aufstand gegen Mubarak im Januar dieses Jahres. Ein aufschlussreiches filmisches Protokoll einer Volkserhebung gegen einen Diktator – dargestellt an Hand von menschlichen Miniaturen, die weit über die weltweit verbreitenden Bilder hinaus geht.
Nachhilfeunterricht über das Wagnis gelebter Demokratie und Selbstbestimmung gibt der Ghanesisch-Schweizer Filmemacher Jarreth Merz mit seiner auch formal anspruchsvollen Dokumentation „An African Election“ über die Wahlen in Ghana 2008.
Bereits in ihrem Buch „Ufo in her eyes“ (Deutscher Titel: „Ein Ufo dachte sie“) hat sich die englisch-chinesische Schriftstellerin und Regisseurin Xiaolu Guo ziemlich listig mit den Verlockungen der Macht beschäftigt.
Nach ihrem in Locarno ausgezeichneten „She a Chinese“ stellte sie in Hamburg ihren Zweitling nach ihrem Buch vor. Produzent ist Fatih Akin. Sie schildert in einer zurückhaltenden Parabel was passiert, wenn Provinzpolitiker große weite Welt spielen.
Einen seltsam verstörenden Blick in ein Tel Aviv, das ausgestorben scheint, drehte Eran Kolirin mit „The Exchange“. Wer etwas in der Art seines Debut-Erfolgs „Die Band von Nebenan“ erwartete, musste sich eines anderen belehren lassen. Ein Mann versucht aus einem tranig langweiligen Ehe-und Berufsalltag auszubrechen. Das Ergebnis ist kafkaesk….
Ebenfalls um einen Moment, in dem das Leben still zu stehen scheint, bildet den Ausgangspunkt zu Nuri Bilge Ceylans neuem Film „Once open an time in Anatolia“, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes nicht die Beachtung bekam, die er verdient hätte.
Beim Filmfest Hamburg hatte das zweieinhalbstündige Werk seine deutsche Premiere: Ceylan ist nicht nur der gegenwärtig beste türkische Filmemacher, sondern einer der Großen des Weltkinos. Einem Anderen wäre es kaum möglich, aus einem Moment banalen Polizeialltags ein existentielles Drama zu machen.
Kein anderer filmt derart eindrücklich die Atmosphäre, wenn ein Gewitter aufzieht, wie Nuri Bilge Ceylan: ein großer Tross ist in Anatolien unterwegs, um eine Leiche zu finden. Selbst der geständige Täter weiß nicht mehr so genau, wo er sein Opfer notdürftig verscharrt. Ein Brunnen und ein Baum seien in der Nähe gewesen. Aber davon gibt es viele. Das Gewitter kommt näher.
Während die einfach Gendarmen und ihre Helfer ihre Spaten wieder einpacken und zum nächsten möglichen Tatort weiter zu fahren, liegen bei den Ermittlern langsam aber sicher die Nerven bloß. Der Notarzt, ebenfalls mit von der Partie, erlebt das Ganze mehr und mehr als absurdes Theater. Genial macht Ceylan aus der Banalität Welttheater über den Tod und das Leben, die Gewalt, das Harmlose im Bösen und die Schwierigkeit, die richtigen Mittel und Wege zu finden – in einer Gesellschaft am Rande des großen Donnerwetters.
„Hamburger Filmfest“ bot einmal mehr etwas feinsinniger als anderswo: bestes filmisches Welttheater…