Seit 1954 dreht Alain Resnais Filme. Er war einer der Wegbereiter der „Nouvelle vague“: mit „Hiroshima mon amour“ (1958) und „Letztes Jahr in Marienbad“ (1961) setzte er Zeichen für eine Erneuerung der Filmsprache. Avantgardist ist der inzwischen 90jährige Resnais geblieben. Gestern Abend hatte bei den noch bis zum Wochenende dauernden Filmfestspielen von Cannes sein neuer Film „Vous n’avez encore rien vu/Ihr werdet euch noch wundern“ Premiere.
Der erfolgreiche Schriftsteller Antoine d’Anthac ist bei der Reinigung seines Jagdgewehrs zu Tode gekommen. Kein Unfall, sondern von langer Hand geplanter Selbstmord. Telefonisch informiert sein Sekretär eine Reihe prominenter Schauspieler, die mit dem Verstorbenen eine Jahrzehntelange persönliche und berufliche Beziehung verbunden hat. Sabine Azema, Mathieu Amalric, Pierre Arditi, Michel Piccoli und Lambert Wilson haben alle in Antoines bekanntesten Stück „Eurydice“ in unterschiedlichen Inszenierungen mitgespielt und damit Karriere gemacht. In seinem Testament bittet er sie jetzt in seine weitläufige Villa. Sie sollen sich eine DVD mit einer aktuellen Version des Stücks durch ein junges Ensemble ansehen.
Für alle Beteiligten ist die Konfrontation mit dem Stück „Eurydice“, dem sie nach wie vor emotional eng verbunden sind, ein Deja-vu-Erlebnis. Obwohl sie der unbefangene Umgang der jungen Kollegen mit dem vertrauten Text zunächst irritiert, nehmen sie schließlich die Stichworte auf und klinken sich aus der eigenen Erfahrung in die Handlungsabläufe ein: Zum Beispiel Sabine Azéma, die mit ihrer Verkörperung der Titelrolle bejubelt wurde, ebenso wie ihr Partner Lambert Wilson.
Natürlich gibt es den Dichter Antoine d’Anthac nicht: bei dem Stück, das in Alain Resnais neuem Film die entscheidende Rolle spielt handelt es sich um „Eurydice“, das Jean Anouilh 1941 geschrieben hat. Seine moderne Variation des klassischen Stoffes von Orpheus und Eurydike entstand unter dem Eindruck der Beschäftigung mit C. G. Jung und dem Existentialismus.
Resnais machte daraus in „Vous n’avez encore rien vu/Ihr werdet euch noch wundern“ ein atemberaubendes Spiel auf unterschiedlichen Ebenen: Die unendlichen Möglichkeiten große Literatur – wie die Jean Anouilhs – immer wieder neu zu interpretieren. Das ist am Ende die Erfahrung der Profis, die sich alle selbst spielen, mit einer neuen Generation, die für sich neue Zugänge findet. „Ihr werdet euch noch wundern!“ Ein großartiges, abgeklärtes Alterswerk. Ähnlich wie bei den Spätwerken Hitchcocks, Chaplins oder Clint Eastwoods spielen auch bei Resnais inzwischen die formalen Aspekte der Inszenierung keine Rolle mehr – sie sind perfekt! So das jetzt ein kühnes inhaltliches Konzept umgesetzt werden kann: ein 90jähriger Alain Resnais ist neben der Literatur – nach wie vor – von den unerschöpflichen Möglichkeiten der Sprache des Films fasziniert. Fasziniert sein, immer wieder aufs Neue! Vielleicht ist das das Geheimnis ungebrochener Kreativität. „Ihr werdet euch noch wundern“ ist ein Film zum niederknien schön!