Und noch eine Sektions-Eröffnung: Während draußen der erste Platzregen des Festivals über Locarno nieder ging: im schönen alten „Ex-Rex“-Kino (mit Orchestergraben) der Auftakt zur „Vincente Minnelli Retrospektive“ mit einem der unbekanntesten Filme des vielseitigen Regisseurs. Mit „A matter of time“ von 1976, seinem letzten Film und einzigem, den er mit Tochter Liza gedreht hat. In einer weiteren Hauptrolle Ingrid Bergman.
Eine Aschenputtel-wird-Filmstar-Geschichte. Aber vollkommen anders als gewohnt. Nina (Liza Minnelli) kommt vom Lande nach Rom und arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel, das schon bessere Zeiten gesehen hat.
Sie ist vor allem für die exaltierte Contessa Sanziani (Ingrid Bergman) zuständig, bei der sich gelebtes und geträumtes Leben unentwirrbar vermischen. Die beiden Frauen scheinen sich auf magische Weise gegenseitig zu spiegeln. Während draußen vor dem Fenster Vogel-schwärme aufsteigen.
In einer atemberaubenden Dramaturgie kombinierte Vincente Minnelli in „A matter of time“ das Melodram mit der Komödie, das Musical mit dem Phantastischen – ohne dabei auch nur für einen Moment den Überblick zu verlieren. Grandios die Bergman als lebender Leichnam!
Letztlich hat Minnelli hier einen Nekrolog auf seine eigene Karriere und den Untergang eines Kinos, in dem er groß wurde und den Höhepunkt seiner Karriere erlebte. Alles vorbei: das Interieur des einstigen Luxushotels ist verschlissen.
Die großen MGMs waren 1976 bereits Filmgeschichte, produziert wurde „A matter of time“ vom Trash-Horrorspezialisten Samuel Z. Arkoff mit kleinstem Budget – nicht einmal für Außenaufnahmen in Rom hat das Geld gereicht. Trotzdem ein großer Film über das Abschied nehmen. Ein Spiegel spielt dabei eine wichtige Rolle. Ihm ist nicht zu trauen. Alles ist in Bewegung, die Konturen verschwimmen.
Minnelli ist skeptisch was den Generationenvertrag betrifft. Seine Tochter spielt eine ambivalente Rolle. Und wenn Ingrid Bergmans Comtessa am Ende stirbt, steht ihre Tocher Isabella Rossellini als verstörte, blutjunge Krankenschwester an ihrem Bett. Da ist kein weiterer Kommentar notwendig.
Bei Vincente Minnelli zeigten sich bereits bei den Dreharbeiten zu „A matter of time“ erste Symptome seiner Alzheimer-Erkrankung mit der er dann noch zwölf Jahre gelebt hat.
P.S. Zur „Minnelli“-Retro hat der französische Filmhistoriker Emmanuel Burdeau das Begleitbuch geschrieben. Es ist auf Französisch im Verlag „capricci“ erschienen und kostet 22 Euro.