Eine australische Regisseurin verfilmt ein düsteres Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte, das bisher im Kino nur gestreift wurde: über die Kinder, die in den Wirren des untergehenden NS-Regimes von ihren Eltern getrennt wurden und auf sich allein gestellt versuchen mussten, zu überleben. Der Film heißt „Lore“, die jüdische-australische Regisseurin, Cate Shortland. Er hatte gestern Abend im Rahmen der „65. Filmfestspiele von Locarno“ Premiere.
Frühjahr 1945: in einer großbürgerlichen Villa irgendwo in Deutschland wird hektisch aufgeräumt: der Hausherr in SS-Uniform verbrennt im Garten Akten, von denen anzunehmen ist, dass sie ihn als NS-Täter belasten: schon wieder einer der üblichen Nazi-Bewältigungsfilme möchte man nach den ersten Momenten gequält meinen und wartet darauf, das bereits unzählige Male auf der Leinwand Gesehene noch einmal zu sehen. Tröstet sich damit, dass die Verbrechen des NS-Regimes nicht oft genug an den filmischen Pranger gestellt werden können. Erst recht vor dem Hintergrund der neuerlichen braunen Umtriebe in unserem Land…
Doch schon bald ändern sich der Tonfall und der Stil des Films „Lore“. Die Australische Regisseurin Cate Shortland hat bereits mit ihrem mehrfach ausgezeichneten Debut „Somersault“ bewiesen, dass sie überstrapazierten Sujets – in diesem Fall pubertäres Frühlingserwachen – neue Seiten abgewinnen kann. Jenseits aller Klischees hat sie jetzt den Roman „Die dunkle Kammer“, der britischen Autorin Rachel Seiffert verfilmt. In giftig bunten Bildern erzählt Shortland in „Lore“ die Odyssee der von Mutter und Vater verlassenen Kindern durch das Chaos der unmittelbaren Nachkriegszeit von Süd- nach Norddeutschland. Dabei machen Lore und ihre Geschwister die bittere Erfahrung, dass ihre bisher heile Kinderwelt auf Verbrechen und Lüge aufgebaut war. Zwar kommen sie bei Oma in Husum an, aber da erwartet sie eine böse, autoritäre alte Frau, die dem Gestern anhängt.
Merke: „Lore“ ist eine australisch-englisch-deutsche Koproduktion, die auf Deutsch, mit deutschen Schauspielern teilweise im Schwarzwald gedreht wurde. Die Regisseurin beherrscht die deutsche Sprache selbst nicht… Sie betonte am Rande der Filmfestspiele von Locarno:
„Ich kannte natürlich den Text des Drehbuchs, das ich selbst mit Hilfe einer deutschen Dramaturgin geschrieben habe. Dem sind ausführliche Archiv-Recherchen voraus gegangen. Danach habe ich meine Regieanweisungen geben. Das Vorgehen zwang mich , zu dem Stoff Distanz zu halten und auf Dinge zu achten, auf die ein Deutscher vielleicht so nicht geachtet hätte. Die Sprache verlor ihre Bedeutung.“
Zumal in Lore wenig gesprochen wird! Dem Thema hat die Distanz gut getan. Dieser Blick von außen löst sich von den üblichen, inzwischen sattsam bekannten Betroffenheitsbildern. „Lore“ erzählt davon, wie sich ein ganzes Volk belügen ließ – weil es der Bequemlichkeit diente. Die Kinder der Täter mussten das dann ausbaden. Ein universelles Thema gibt ein Ensemble hochtalentierter junger Schauspieler Glaubhaftigkeit! Dafür gab es von den 8000 Besuchern der Piazza Grande von Locarno gestern Abend anhaltenden Applaus. Im Herbst kommt der Film auch in die deutschen Kinos.