Zeichen und Wunder. Gleich am ersten Tag ein Meisterwerk beim diesjährigen „Festival del film Locarno“! Der philippinische Film ist weitgehend ein „weißer Fleck“ auf der Landkarte des Weltkinos. Zumindest im Programm internationaler Filmfestspiele ist ein Filmemacher aus dem asiatischen Inselreich seit einigen Jahren präsent: Lav Diaz, Jahrgang 1958. Obwohl er zu den am meisten ausgezeichneten Regisseuren der Gegenwart gehört, ist er in Europa kaum bekannt. Das hängt unter Anderem mit der ungewöhnlichen Länge seiner Filme zusammen. Sein 2004 gedrehtes Familiendrama „Evolution of Filippino Family“ über den Alltag unter der Marcos-Diktatur dauert elf Stunden. Zum ersten Mal im Hauptprogramm eines europäischen Filmfestivals hatte heute Nachmittag Lav Diaz neuer Film Premiere. Er heißt „Mula sa kung ano ang noon/Von dem, was vorher geschah“ und hat eine Länge von fünfeinhalb Stunden….
Kaum zu glauben: Diaz Film fesselt von Anfang an und lässt einen nicht wieder los. Während normaler Weise bei Festivalvorführungen ein Kommen und ein Gehen ist, herrschte bei „From what is before“ konzentrierte Stille. Damit hat sich Lav Diaz endgültig als einer der ganz großen Filmemacher unserer Zeit vorstellt. Vergleichbar mit Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij oder Friedrich Wilhelm Murnau. Wie sie ist auch Diaz einem tiefen Humanismus verpflichtet. Dafür findet er nie gesehene Bilder und eine Dramaturgie, die Zeit und Raum aufhebt. Und er dreht in Schwarz-weiß!
„Bei diesem Film habe ich die Erfahrungen meiner Kindheit umgesetzt; meinen Blick auf eine Welt, die sich auf einen Abgrund zu bewegt. Mit Erwachsenen, die plötzlich merken, dass eine bisher nie gekannte Ge-fahr droht. Bei diesem Film versuche ich Erinnerung Realität werden zu lassen…“
Lav Diaz bei seiner Pressekonferenz in Locarno. Natürlich spielt auch in „From what is before“ das philippinische Trauma, die Marcos-Diktatur eine wesentliche Rolle. Der Film ist zeitlich in den 1970er Jahren in einer entlegenen Provinz des Landes angesiedelt Die Menschen leben unter archaischen Bedingungen. Auch diese Tradition hat Marcos zerstört… Noch einmal Lav Diaz:
„Das war die schlimmste Periode in der Geschichte unseres Landes. Mit einer Brutalität ohne Gleichen wurde unsere Kultur praktisch ausge-löscht. Davon haben wir uns bis heute nicht erholt…“
Das kommt gerade uns Deutschen bekannt vor! Das macht auch die Größe dieses Films aus. Lav Diaz geht mit „From what is before“ weit über eine allein auf die Philippinische Geschichte beschränkte Trauer-arbeit hinaus….
Es regnet! Der Wald an der Küste versinkt im Schlamm: ein Unwetter zieht auf. Ganz beiläufig setzt Lav Diaz Zeichen der Veränderung. Die Menschen versuchen sie, soweit es geht zu ignorieren, aber der Sumpf lässt keinen unbeschmutzt.
Wie hier die Inauguration einer totalitären Herrschaft in der Natur gespielt wird, hat es so überzeugend schon lange nicht mehr auf der Leinwand gegeben. Diaz hat seinen Film als Produzent, Regisseur und Kameramann in einer Person mit einem minimalen Budget realisiert. Sämtliche Mitglieder seines – übrigens göttlich spielenden – Ensembles haben zusätzliche Aufgaben übernommen: von der Maske bis zur Aufnahmeleitung.
Dieses poetische Meisterwerk eines Auteurs beschämt die überfinanzierten und dabei sinn-und formentleerten westlichen Produktionen von „Lucy“ über den „Planet der Affen“ bis zu den Einweg-Produktionen des deutschen Fernsehens…. Allein wegen „From what is before“ hat sich die Reise nach Locarno gelohnt.
Dabei ist allerdings bedauerlich, dass schon ein Wunder geschehen müsste, damit dieser Film den Weg auf unsere Mattscheiben oder Leinwände findet… Aber bleiben wir zuversichtlich!