Fein und mit hohem künstlerischem Anspruch platzieren sich die Filmfestspiele von Locarno in der internationalen Festivallandschaft. Filmkunst als sommerliche Publikumsattraktion vor imposanter Kulisse am Largo Maggiore. Die 65. Ausgabe ist eben mit der Verleihung der Preise zu Ende gegangen. Den Hauptpreis, den „Goldenen Leoparden“, bekam diesmal der französische Regisseur Jean-Claude Brisseau für „La fille de null part“. Bei den weiteren Preisen fiel auch etwas für Deutschland ab: die zwischen Schwarzwald und Nordsee gedrehte Koproduktion „Lore“ der australischen Regisseurin Cate Shortland wurde mit dem Publikumspreis der „Piazza Grande“ ausgezeichnet, der Dokumentarfilm „Vergiss mein nicht“ mit dem Preis der „Semaine de la critique“.
Anderswo werben Glamour-Stars auf den Postern der Sponsoren für das Festival; in Locarno gibt der Künstlerische Direktor den Cover-Boy: Olivier Pére ist omnipräsent! Als Mann im weißen Anzug grüßt er von Litfaßsäulen, bei den Vorstellungen auf der Piazza Grande und bei jeder zweiten Pressekonferenz – mit und ohne Sonnenbrille. Das spricht für sein Selbstbewusstsein und das seiner Filmfestspiele. Pére betonte gleich zum Anfang des „65. Festival del Film“, Locarno sei auf bestem Weg, die Nummer Eins unter den Veranstaltungen dieser Art zu werden. Seine Kollegen Fremaux und Kosslick in Cannes und Berlin werden vorerst noch ruhig schlafen können, in Rom und Venedig muss man sich angesichts der Power vom Lago Maggiore schon eher Sorgen machen.
Eines hat Locarno den Mitbewerbern unter den A-Filmfestivals in Europa in diesem Jahr allerdings gezeigt, dass weniger mehr und ein klares Konzept Gold wert ist.
Selbst wenn man angesichts des erklärten Willens, im internationalen Wettbewerb der Avantgarde teilweise mit der Brechstange eine Bresche zu schlagen, mitunter das Kino vor der Zeit verließ. Dann, wenn das prätentiöse Kunstgewerbe die Frustrationstoleranz über Gebühr strapazierte. Aber meistens überraschte das Programm mit ungewöhnlichen Entdeckungen. Dazu gehört beispielsweise die filmische Rekonstruktion eines Todesurteils in China in der Semidokumentation „Wenn es Nacht wird“ von Ying Liang. Der Regisseur lebt inzwischen in Südkorea in der Emigration. So ist der Leopard für die Beste Regie in mehrerer Hinsicht gerechtfertigt.
Das Avantgarde keine Frage des Alters ist, beweist der inzwischen 72jährige Jean-Claude Brisseau, der für seinen neuen Film „La fille de nulle part“ in diesem Jahr den „Goldenen Leoparden“ erhalten hat. Seit Jahrzehnten ein Enfant Terrible des französischen Films mit pornographischen Neigungen, erzählt Brisseau diesmal die wundersame Geschichte eines alten Mannes, dem ein junges Mädchen in die feine Pariser Wohnung weht: Engel, Nymphe und Heiliger Geist in einem. Der Alte ist irritiert…
Ebenso originell programmierte Olivier Pére die „Piazza Grande“, dem öffentlichkeitswirksamen Filetstück der Filmfestspiele von Locarno. Daran sind nicht wenige seiner Vorgänger kläglich ge-scheitert: die 8000 Plätze wollen ein Dutzend mal gefüllt sein.
Die Filme sollen als Touristenunterhaltung ebenso tauglich sein, wie dem Anspruch eines Filmfestivals genügen. Diesmal reichte das Spektrum vom englischen Gangsterfilm bis zur Uraufführung von „Das Missenmassaker“ des Tausendsassas des Schweizer Films, Michael Steiner. Eine böse Satire auf die eidgenössische Liebe zu den unterschiedlichen Misswahlen und ziemlich elegante Horrorfilm-Parodie in einem. Vermutlich der Schweizer Blockbuster der nächsten Monate.
Und dann natürlich der Publikumsfavorit „Lore“, mit dem uns die australische Regisseurin Cate Shortland vorführt, wie man heute Nazi-Vergangenheit filmisch aufarbeiten sollte. Ein weiterer Lichtblick aus Deutschland: „Vergiss mein nicht“.
David Sievekings berührender Dokumentarfilm über seine an Alzheimer erkrankte Mutter wurde mit dem Preis der „Woche der Kritik“ ausgezeichnet.
Dazu das Gesamtwerk von Otto Preminger und traumhaftes Sommerwetter im Tessin: Locarno war wieder einmal eine Reise wert. Selbst wenn der Weg zu Olivier Péres Vision von der Nummer Eins unter den Filmfestspielen in Europa noch weit und steinig sein dürfte…
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