Unter den vier großen Europäischen Filmfestspielen ist Locarno neben Berlin, Cannes und Venedig das kleinste, aber auch eines der ältesten und profiliertesten. Zum 65. Mal wird das „Festival del Film Locarno“ heute Abend eröffnet – mit der Premiere des neuen Films von Nick Love „The Sweeney“: ein eleganter Ganovenfilm vor Londoner Kulisse. Im internationalen Wettbewerb um die Goldenen und Silbernen Leoparden bewerben sich ab morgen 19 Filme. Sie werden flankiert von einem üppigen Rahmenprogramm, das nach einem neuen Konzept arrangiert wurde und Locarno einen Vorsprung vor der vorwiegend unübersichtlichen Programmplanung in Berlin, Cannes und Venedig sichert.
Inoffizielle hat das „65. Festival del film Locarno“ bereits am Sonntag begonnen: Mit Alfred Hitchcocks „Fenster zum Hof“ auf der größten Kinoleinwand Europas auf der Piazza Grande. Anlass für das Vorfestival: der Produzent des Films – „Universal“ – feiert in diesem Jahr sein Hundertjähriges. Ein passenderes Entré für ein Sommer-Filmfestival kann es nicht geben: „Rear Window“ handelt von einem Mann – James Stewart spielt ihn – der in einem heißen Sommer wegen eines gebrochenen Beins sein stickiges Apartment nicht verlassen kann und vom Rollstuhl aus das Leben im Innenhof und Vis-a-vis – Mord inklusive – beobachtet. Filmgeschichte trifft Ambiente: „Histoire du Cinema“ heißt eine neue Sektion im Programm des „Festival del Film Locarno“: damit bekommt eine seit langem gepflegte Tradition der Filmfestspiele ein offizielles Forum. Der künstlerische Leiter Olivier Pére:
„In Locarno wollen wir zeigen, dass es möglich ist, Meilensteine der Filmgeschichte in Verbindung mit neuen ambitionierten Filmen zu präsentieren. Es geht uns um die spannende Wechselwirkung die aus dieser Kombination entsteht. Leinwandlegenden werden zu Gast sein und ihre großen Filme aus der Perspektive von Heute mit dem Publikum diskutieren. Ausgehend von der gemeinsamen Liebe zum Film“.
Bereits heute Abend stellte Charlotte Rampling „Der Nachtportier“ vor, mit dem sie 1974 bekannt wurde. Der provokante Film Liliana Cavanis galt damals als überaus skandalös. Am Freitag ist Alain Delon mit „Rocco und seine Brüder“ zu Gast. Nächste Woche u. a. Harry Belafonte mit „Carmen Jones“.
Die Korrespondenz zwischen Filmgeschichte und zeitgenössischer Avantgarde lässt in diesem Jahr eine besonders gelungene Einheit erwarten. Siehe „Carmen Jones“! Die moderne Bizet-Adaption ist einer der kühnsten Filme von Otto Preminger.
Das Gesamtwerk des Österreichisch-amerikanischen Regisseurs Otto Preminger zum Beispiel durch ambitionierte Arbeiten junger Filmemacher wie Tizza Covi und Rainer Fimmel aus Österreich sekundiert. Im Wettbewerb um die Goldenen und Silbernen Leoparden präsentieren sie ihren neuen Film „Der Glanz des Tages“. In der Reihe „Fuori concorso“ ist „Perret in Frankreich und Algerien“ zu sehen. In seinem neuen dokumentarischen Film-Essay macht sich Heinz Emigholz auf zu den Bauwerken von Gustave und Auguste Perret.
Über die Vergabe der Preise im Wettbewerb entscheidet auch in Locarno eine internationale Jury, die diesmal von dem thailändischen Avantgardisten Apichatpong Wessaretakul geleitet wird. Das passt zur anspruchsvollen Konzeption Olivier Péres.
Aber das Ganze kostet Geld. Das Festival im Tessin wird zu 80 Prozent von Sponsoren finanziert. Für die Finanzen ist Festival-Präsident Marco Solari zuständig und fordert von seinen Direktoren Qualität auf der einen Seite und moderaten Mainstream für die Piazza Grande. Da dürfte neben „The Sweeney“ vor allem Steven Soderberghs „Magic Mike“ oder „Das Missen-Massaker“ des Schweizer Erfolgsregisseur Michael Steiner die 8000 Plätze füllen. Aber auch in dieser Sektion ein bemerkenswert homogenes Programm.
Die hochambitionierte Filmauswahl in einem überschaubaren Programm, die hervorragend kuratierte Retrospektive und das einzigartige Ambiente machen das Niveau von Locarno aus. Damit wird spielend der gegenüber Berlin, Cannes und Venedig geringere „Glamourfaktor“ ausgeglichen. Also spannende Tage für Cineasten am Largo Maggiore. Die 65. Filmfestspiele von Locarno dauern bis zum 11. August!