Über Generationen war Karl May (1842-1912) der erfolgreichste deutsche Schriftsteller: die aufopferungsvolle Freundschaft zwischen dem edlen Apachenhäuptling Winnetou und seinem Freund Old Shatterhand rührte jung und alt zu Tränen. Dabei störte es nicht weiter, dass der Autor – entgegen eigener Bekundung – keine persönlichen Erfahrungen beschrieben, sondern alles frei erfunden hat. In den Zeiten von Internet und Facebook scheint Karl May langsam aber sicher endgültig in die ewigen Jagdgründe einzugehen. Was bleibt, ist eine der interessantesten literarischen Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts, in dessen Werk sich – analog zu Richard Wagner – eine neue Zeit ankündigt. Im Rahmen der diesjährigen „Ludwigsburger Schlossfestspiele“ hat heute Abend „Ich erfand Karl May. Ein Psychogramm“ von Thomas Schadt Premiere.
Der renommierte Filmemacher und künstlerische Direktor der Filmakademie Baden-Württemberg debütiert damit als Theaterautor und -regisseur. Die Titelrolle spielt Thomas Thieme, mit dem Schadt bereits bei seinem dokumentarischen Spielfilm über Helmut Kohl („Der Mann aus Oggersheim“) zusammen gearbeitet hat.
Wer war dieser Karl May? Der Sohn eines armen Webers wusste das zeitlebens selbst nicht so ganz genau: Dichtung und Wahrheit, Dein und Mein, das Ich und die Anderen gerieten ihm nicht selten durch-einander – mit dramatischen Folgen.
Erst waren es ein paar Kerzen, dann eine Uhr und schließlich Hochstapeleien in großem Stil, die den jungen Karl May ins Gefängnis, dann ins Zuchthaus brachten. Sein späterer Kommentar: Alles Missverständnisse und unglückliche Zufälle. Eine dunkle Macht habe Besitz von ihm ergriffen….
„Ich erfand Karl May. Ein Psychogramm“ nennt Thomas Schadt seine erste Theaterarbeit. Eine gespielte Collage aus autobiographischen Texten und zentralen Momenten aus Mays literarischem Werk. Vor allem natürlich aus Winnetou. Eine der Figuren des Autors, in der er seine verdrängte Homosexualität auslebte. Das verdeutlicht Schadt in einer sehr schönen Szene.
Eine Bühne voller Schatten wird im barocken Ludwgisburger Schloßtheater zum Spiegelbild von Karl Mays Psychopathologie. Erst ganz zum Schluss öffnet sich die Tür ins Weite. Aber dazu gibt es aus der Konserve auch nur Martin Böttchers Musik… Der Dichter wird von Thomas Thieme verkörpert, einem der wichtigsten deutschen Schauspieler unserer Zeit.
Er hat Erfahrungen mit schwierigen Rollen und gibt der Borderline-Persönlichkeit Karl Mays eine Stimme. Verstört und leise, dann wieder voller Arroganz in der Selbststilisierung. Dabei hat sich Thomas Schadt nicht auf den Solo-Auftritt eines Star-Schauspielers beschränkt.
Zur Raffinesse von Schadts Konzept gehört, dass dem „Solisten“ einen „Chor“ aus fünf Geistern zur Seite stellte, die die Passionsgeschichte des Karl May nach klassischer Art begleiten. Gespielt werden die „Geister“ von Studenten der Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst, die Thomas Schadt bis vor kurzem kommissarisch geleitet hat.
Dabei beeindruckt, das Thomas Thieme und seine jungen Kolleginnen und Kollegen absolut auf Augenhöhe spielen.
Das liegt an Schadts sensibler Regie, aber auch an der enormen Begabung der Nachwuchsdarsteller, die dem großen Thieme durchaus das Wasser reichen können. Eine kluge Textkompilation, großartige Schauspieler und eine originelle Regie holen bei „Ich bin Karl May“ die schillernde Persönlichkeit des Dichters und Menschen aus den Schatten der Vergessenheit. Darüber hinaus steift das Stück im Grundsatz die gelegentlich verschwimmenden Grenzen zwischen fiktiven dichterischen Welten und der Realität. Chapeau Thomas Schadt!