Deutschland 2009 – Regie: Thomas Lauterbach
Volker Lösch gilt als einer der experimentier-freudigsten deutschen Theaterregisseure der Gegenwart. Ende letzten Jahres wurde seine Dramatisierung von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ an der Berliner Schaubühne hoch gelebt. Lösch ist auch häufig am Stuttgarter Schauspielhaus zu Gast. Hier erregte 2007 seine „Medea“-Inszenierung großes Aufsehen, bei der er die meisten Rollen von türkischen Laiendarstellerinnen spielen ließ.
Über die Proben-Arbeit an dem Stück hat Thomas Lauterbach seinen Dokumentarfilm „Hochburg der Sünden“ gedreht, der diese Woche in den deutschen Kinos startet. Im Mittelpunkt der Dokumentation steht Aysel Kilic. Sie ist in der Bundesrepublik aufgewachsen und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart. Sie ist bestens in die deutsche Ge-ellschaft integriert. Von ihrem türkischen Hintergrund hat sich Frau Kilic allerdings ihren muslimischen Glauben bewahrt und dazu gehört das Tragen eines Kopftuches.
Eine Selbstverständlichkeit und nicht weiter spektakulär. Nach dem die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, suchte sie nach einer neuen Herausforderung. Deshalb meldete sich Aysel Kilic auf eine Zeitungsanzeige bei Volker Lösch, der für sein experimentelles Medea-Projekt Frauen mit türkischem Migrationshintergrund suchte.
Behutsam begleitete der Ludwigsburg-Absolvent Thomas Lauterbach für seinen Dokumentarfilm „Hochburg der Sünden“ die Arbeit an dem „Medea“-Projekt am Staatsschauspiel Stuttgart. Nicht nur für Volker Lösch eine Herausforderung, sondern in erster Linie für die Türkinnen, die bei „Medea“ zum ersten Mal auf einer Theaterbühne standen.
Heikel wurde die Situation für alle Beteiligten, als Lösch von seinen Protagonistinnen schriftliche Statements zu ihrem biographischen Hintergrund wünschte, um dem klassischen Euripides-Text eine aktuelle Dimension zu geben.
Die anonym von den Türkinnen verfassten Texte handeln von den existentiellen Schwierigkeiten eines Lebens zwischen türkischer Tradition und den Verhältnissen in der deutschen Gesellschaft, von seelischem Leid und körperlicher Gewalt. Dadurch wurde für die Frauen aus dem „Medea“-Projekt eine sehr persönliche Angelegenheit.
Vor allem für Aysel Kilic, die als einzige in der Gruppe ein Kopftuch trägt und aus ihrer engen Bindung zur Glaubenpraxis und traditionellem Rollenverständnis keinen Hehl macht. Sie wird im Laufe der Proben und damit auch des Films immer stiller, nachdenklicher. Eine der Stärken dieser Dokumentation: sie lässt dafür Raum.
Regisseur Lauterbach gelang auf beeindruckende Weise die komplexe Situation türkischer Frauen in der Bundesrepublik durchschaubar zu machen. Den schwierigen und vielfach auch schmerzlichen Prozess der Integration in die deutsche Gesellschaft . Wobei sich die Betroffen vor Lauterbachs Kamera immer wieder fragen, wie weit sich der Verlust traditioneller Erfahrungen und der Mehrwert eines Lebens in einer offenen Gesellschaft wie der Bundesrepublik die Waage halten. Der Film weist damit weit über die bloße Dokumentation eines Theater-Experiments hinaus! Außerdem: Ein spannendes Beispiel dafür, wie Theater und Film zusammen Anstöße zu einem gesellschaftspolitischen Diskurs geben können, in dem sie sich gegenseitig ergänzen…
Dazu der Beitrag aus SWR2 Journal am Mittag vom 9.3.2010:[media id=86 width=320 height=20]