Als „Vater“ der Endlos-TV-Serie „Lindenstraße“ ist Hans W. Geissendörfer populär geworden. Seine Arbeiten als Kinoregisseur sind dabei in den Hintergrund gedrängt worden. Dabei hat sich Geissendörfer mit sensiblen Literaturverfilmungen vorher einen Namen gemacht. Seine Highsmith-Adaption „Die gläserne Zelle“ wurde für einen Auslands-Oscar nominiert. Bei Arthaus sind jetzt in anspruchsvollen Editionen, nahezu alle Geißendörfer-Filme auf DVD veröffentlicht worden.
„In der Welt habt ihr Angst“ ist der Titel des bislang jüngsten Film von Hans W. Geissendörfer. Ein Zitat aus dem Johannes-Evangelium, das Johann Sebastian Bach in seiner Kantate Nr. 87 verarbeitet hat und in dem esweiter heißt: „Aber seit getrost, ich habe die Welt erlöst!“ Lebensangst und die vage Hoffnung auf Erlösung sind die zentralen Motive, mit denen sich der Regisseur von Anfang seiner Karriere an beschäftigt. So ist es nicht verwunderlich, am Anfang ein Vampirfilm stand.
Nach Motiven aus Bram Stokers „Dracula“ drehte Geissendörfer 1970 „Jonathan“. Damit wird auch die „Geissendörfer-DVD-Edition“ von StudioCanal eröffnet. Dieses ungewöhnliche Beispiel für den „Jungen deutschen Film“ war lange nicht mehr zu sehen.Zu den Extras der Edition gehört zu fast jedem Film ein ausführliches Interview mit dem Regisseur. Die Anregung zu „Jonathan“ verdankte Geissendörfer Wim Wenders.
Ein despotischer Vampir-Fürst droht die Weltherrschaft an sich zu reißen. Mit seiner unheimlichen magischen Ausstrahlung macht er sich die Menschen gefügig:
Der junge Vampir-Forscher Jonathan bekommt den Auftrag, Strategien zu erkunden, wie dem mächtigen Herrscher beizukommen wäre. Allen Warnungen zum Trotz macht er sich auf den Weg und erlebt eine blutige Überraschung…
Ganz dem Zeitgeist der 1970er Jahre verpflichtet machte Hans W. Geissendörfer bei „Jonathan“ aus Stokers „Dracula“ eine Anti-Kapitalismus-Parabel. Die Blutsauger werden schließlich vom rebellierenden Volk bei Sonnenaufgang ins Wasser getrieben. Eigentlich ein verlässliches Mittel gegen Vampire. Ob es auch diesmal funktioniert, lässt Geissendörfer jedoch offen…
Aufsehen erregte Geissendörfer 1971 mit einer gewagten Adaption von Friedrich Schillers „Don Carlos“ im Stil des gerade populären Italo-Westerns. Die Dreharbeiten zu „Carlos“ hatten in Israel statt- gefunden. Die Titelrolle spielte Jungstar Gottfried John, seinen Vater Philipp Bernhard Wicki. Außerdem zieren die Godard-Muse Anna Karina, Geraldine Chaplin und Horst Frank die Besetzungsliste.
Obwohl sich Geissendörfer bei „Carlos“ der gängigen Versatzstücke des Italo-Westerns bediente, blieb er inhaltlich der Vorlage erstaun-lich nahe. Das macht „Carlos“ aus heutiger Sicht betrachtet zum originellsten Versuch des „Jungen deutschen Films“, vom Spaghetti-Western-Boom zu partizipieren.
Nicht nur der Italo-Western reizte die jungen deutschen Filmemacher, sondern auch der ziemlich verrufene deutsche Heimatfilm, wie er nach 1950 enorm populär war. Neben Hans W. Geissendörfer versuchten auch Rainer Werner Fassbinder, Volker Schlöndorff und Reinhard Hauff, das Genre zu entrümpeln und eine neue künstlerische und politische Qualität zu geben.
Mit seiner Verfilmung von Anzengrubers „Sternsteinhof“ gelang Geissendörfer 1976 ein Meisterwerk. Ohne auch nur einen Moment zu „Tümeln“, gelang ihm ein großer Film über den Verlust der Unschuld, der Menschlichkeit durch Macht und die Verblendung gegenüber wahrer Gefühle: die schöne, aber arme Leni träumt von einem Mann, der ihr ein Leben ohne Armut ermöglicht. Toni, der Sohn des reichen „Sternsteinhof“-Bauern wäre da genau der Richtige. Doch es kommt tragisch anders. „Der Sternsteinhof“ machte die Schauspielerin Katja Rupé bekannt und gab Peter Kern und Tilo Prückner Gelegenheit zu außergewöhnlichen schauspielerischen Leistungen.
Nach dem „Sternsteinhof“ und einer Verfilmung von Ibsens „Wildente“ fürs Fernsehen, verfilmte Geissendörfer „Die gläserne Zelle“ von Patrica Highsmith, ein besonders komplexes und damit schwer filmisch umzusetzendes Buch der Autorin.
Für „Die gläserne Zelle“ wurde Hans W. Geissendörfer mehrfach ausgezeichnet. Unter Anderem mit einer Oscar-Nominierung. 1984 verfilmte er mit „Ediths Tagebuch“ ein weiteres Werk der Patricia Highsmith. Die virtuose Beschreibung einer Frau, die sich aus einer unerfreulichen Realität mit Hilfe ihrer Tagebuchaufzeichnungen in eine perfekte Parallelwelt flüchtet.
Auch mit „Ediths Tagebuch“ gelang Hans W. Geißendörfer eine meisterliche Literaturverfilmung. 1982 traute sich Hans W. Geissendörfer dann mit einer Adaption von „Der Zauberberg“ nach Thomas Mann in den Olymp der Weltliteratur. Eine internationale Großproduktion in zwei Versionen: zweieinhalb Stunden fürs Kino und sechs Stunden als TV-Serie.
Zum ersten Mal wurde bei dieser Produktion das Prinzip des „amphibischen“ Film ausprobiert. Allerdings verweigerte der amerikanische Koproduzent Geissen-dörfer im letzten Moment die ursprünglich vierstündige Kinofassung und forderte Kürzungen. So kam es zur zweieinhalbstündigen Kinofassung.
Mit Stars wie Rod Steiger, Marie-France Pisier und Charles Aznavour in den Hauptrollen, absoluter Werktreue und von Michael Ballhaus exquisit fotografiert, war „Der Zauberberg“ ein bemerkenswerter Kinoerfolg. Die DVD enthält leider auch nur die gekürzte Kinofassung und einen schmalen Bonusteil. Selbst das bei den anderen Geissendörferfilmen obligate Interview fehlt.
Zu den Kuriositäten in Geissendörfers Oevre gehört „Bumerang Bumerang“ von 1989. Als Beitrag zur Protestbewegung gegen den geplanten Bau des Kernkraftwerkes Wackersdorf gedacht, kam der Film erst in die Kinos, als der Bau bereits gestoppt worden war.
Mehr Glück hatte der Regisseur mit seinem beunruhigenden Streiflicht auf den tödlichen Alltag unter dem NS-Regime „Gudrun“. Eindrucksvoll variierte Hans W. Geissendörfer in „Gudrun“ sein Generalthema von den unschuldig Schuldigen. Die Handlanger eines gewissenlosen Regimes bringen Kinder um ihre Unschuld. Ein zu Unrecht vergessener Film. Ebenso lohnend wie alle Filme der „Hans W. Geissendörfer DVD-Edition“ von StudioCanal. Preis pro DVD: zwischen 10 und 15 Euro.