Familientag beim Filmfest Hamburg, dass heute so richtig mit Programm losgegangen ist. Am Nachmittag mit der zweiten Premiere der neuen deutschen „Tom Sawyer“-Verfilmung (nach der Uraufführung kürzlich beim Frankfurter „Lukas“-Filmfestival) – am Abend dann die Gala mit „Dreiviertel Mond“ von Christian Zübert, mit Elmar Wepper in der Hauptrolle.
Das gestern Abend teilweise von Rasoulofs „Auf Wiedersehen“ verstörte (Sponsoren-) Publikum wäre vermutlich dankbar gewesen, wenn sie statt harter Iranischer Independent-Kost mit dem „Dreiviertel Mond“ bedient worden wäre. Filmfest-Chef Wiederspiel soll lange überlegt haben. Hat dann aber dem politisch brisanten Iraner den Vorzug gegeben.
Das heißt nicht, dass Christian Zübert nur einen handzahmen Film fürs gute Gewissen gedreht hätte. Ganz im Gegenteil. Aber einen Film, der den Zuschauer mit dem Gefühl entlässt, dass noch nicht alles verloren ist. Selbst alte Männer aus Franken können sich noch ändern!
Dabei fängt „Dreiviertel Mond“ so an, wie es der Filmkundige in den letzten 100 Jahren Filmgeschichte schon dutzendfach im Kino erlebt hat. Motto: „Altes Herz wird wieder jung!“ Den Nürnberger Taxifahrer Hartmut Mackowiak (Elmar Wepper) hat es auf seine alten Tage schwer erwischt. Gattin Christa (Katja Rupé) teilt ihrem heimischen Grandler nach jahrzehntelangem Ehealltag knall auf fall mit, sie habe ihn satt und brauche dringend eine „Auszeit“. Auch Tochter Verena (Marie Leuenberger) sieht zum Seelentrost keinen Anlass. Er sei eben ein Ekel! Ihr berufliches Experiment mit einem „Schuh-Café“ ist ihm sowieso fremd.
Zu allem Überfluß muss sich Hartmut noch um ein kleines Mädchen (Mercan Türkoglu) kümmern, das sich in sein Taxi „verirrte“. Die türkische Mama ist auf Dienstreise, die Oma im Koma, der deutsche Vater wenig Neigung, sich in die Pflicht nehmen zu lassen. Also bleibt Hartmut nichts anderes übrig, als sich nach der Decke zu strecken. Er lernt, nicht Weib, Kind und Findelkind sind das Problem, sondern blöderweise er selbst… Der bittere Weg der Selbsterkenntnis führt schließlich zu erstaunlichen Einsichten.
Die genau erzählte pfiffige Geschichte verfällt nicht in die naheliegen-den Klischee, sondern ist dem camouflierenden Lebensgefühl der heutigen Männer um die 60 auf der Spur. Elmar Wepper dabei groß in Form! Christian Züberts bisher bester Film.
Ein Wagnis ging auch der junge Produzent Boris Schönfelder („Nordwand“, „Der Albaner“) mit der Erfüllung eines Jugendtraumes ein: der Neuverfilmung von Mark Twains „Tom Sawyer“ – auf Deutsch, mit deutschen Schauspielern; gedreht in der Mark Brandenburg und in Rumänien – auf dem praktischer Weise stehen gebliebenen Set zu Anthony Minghellas „Unterwegs nach Cold Mountain“ (2003).
Zuletzt hat sich Wolfgang Liebeneiner 1968 „Tom Sawyer und Huckleberry Finns Abenteuer“ als deutsch-französischen Vierteiler angenommen. Keine Sternstunde, damals aber ein veritabler Publikumserfolg.
Siehe da, es ist mit dem neuen „Tom Sawyer“ ein absolut ansehnlicher Film entstanden – der sich – ganz im Gegensatz zu Liebeneiner -ziemlich exakt an die literarische Vorlage hält; wenn man sich an Benno Fürmann mit Feder im Haarschopf als Indianer Joe und Heike Makatsch als Tante Polly gewöhnt hat.
Versiert wie bei der „Weißen Massai“ und „Effi Briest“ ist Hermine Huntgeburth mit dem Buch umgesprungen; fand meistens den richtigen Tonfall für die skurrile Welt der Mississippi-Kleinstadt St. Petersburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Die Regisseurin konnte heute nicht in Hamburg dabei sein – sie dreht gerade Teil 2 „Huck Finn“.
Sowohl „Dreiviertel Mond“ als auch „Tom Sawyer“ bekamen in Hamburg viel Applaus – der sich auch in der „freien Wildbahn“ der deutschen Kinolandschaft wiederholen dürfte.
„Dreiviertel Mond“ startet bereits am 13. Oktober 2011; auf „Tom Sawyer“ muss man noch bis Mitte November warten. Ko-Produzent ist in ausgleichender Gerechtigkeit die ARD/Degeto; Liebeneiner wirkte einst fürs ZDF….
Am Rande des Filmfestes Hamburg machte heute die wenig erfreuliche Nachricht die Runde, dass der allseits (auch von uns) hochgelobte „Transfer“ in den letzten acht Tagen in ganz Deutschland lediglich 320 Besucher anlocken konnte. Sowas ist bitter….