Kurz vor Schluss des „65. Festival de Film“ zwei weitere künstlerische Höhepunkte, der an Highlights nicht armen Filmfestspiele. Arme Jury! Zwei Filme, die jeder für sich auf kongeniale Weise vom Leben und Sterben in Zeiten existenzieller Krisen handeln. Kühne Parabeln darüber, dass der schwache Mensch dabei eigentlich nur alles falsch machen kann. Erlösung gibt es nicht, der Liebe Gott und auch der Teufel haben sich längst verabschiedet. Versuchungen bringen nichts! Drei Männer irrlichtern durch das Dickicht eines Waldes während des Zweiten Weltkriegs in Weißrussland, ein junger Banker mit seiner Entourage in einer Stretchlimousine durch eine moderne Großstadt. Gedreht wurde jedesmal nach einer literarischen Vorlage: Sergei Loznitsas verfilmte „V Tumane/In the fog“, ein Spätwerk des weißrussischen Nationaldichters Vasil Bykau; David Cronenberg ließ sich auf ein Wagnis mit Don DeLillos umstrittenen Endzeitroman „Cosmopolis“ ein. Auf der Leinwand: Glücksfälle für das Kino!
1942: die Deutschen und ihre weißrussischen Vasallen („Im Dienste der Wehrmacht“, steht auf ihren Armbinden!) machen Jagd auf Partisanen und Saboteure oder Beides. Der Gleisarbeiter Sushenya (Vladimir Svirski) wird mit drei Kollegen verhaftet – sie hatten sich an den Schienen zu schaffen und durch unbedachtes Verhalten verdächtig gemacht. Die drei werden gehängt, dem bedächtigen Sushenya macht der Ortskommandant das Angebot, Freiheit, wenn er kollaboriert. Der Integere lehnt das ab. Er wird trotzdem frei gelassen. Ein zynischer „Gnadenakt“ – der Mann gilt jetzt als Verräter und ist in seiner Gesellschaft stigmantisiert.
Es dauert nicht lange, bis einAbgesannter der Partisanen auftaucht, um den vermeintlichen Verräter zu exekutieren. Es ist Burov (Vlad Absshin) ein früherer Nachbar von Sushenya, der sich jetzt aktiv am Widerstand gegen die Deutschen beteiligt. Mit Rücksicht auf die Frau und den kleinen Sohn des Delinquenten, vollstreckt Burov das Urteil nicht gleich an Ort und Stelle, sondern geht mit Sushenya in den Wald.
Um die ordnungsgemäße Erledigung des Auftrag zu überwachen, ist Voitek (Sergei Kolesov) mit dabei. Während er Wache halten soll, machen sich Sushenya und Burov auf die Suche nach einem geeigneten Hinrichtungsplatz. In dem Moment, in dem Burov abdrücken will, wird er selbst von den Schüssen einer deutschen Patrouille schwer verletzt. Sie war von Voitek angeblich übersehen worden.
Aus Vasil Byaus Parabel über das unterschiedliche Wesen der Menschen in der Krise machte Sergei Loznitsa („Mein Glück“, 2010) einen Film, wie man ihn so schon lange nicht mehr gesehen hat. Die Deutsch-Russische-Koproduktion kommt mit 72 Schnitten aus – also ungewohnt lange Einstellungen!
In seiner Rückbesinnung auf das Wesentliche der Dramaturgie erzielt der Regisseur eine enorme Wirkung! Ohne das sein Film auch nur für einen Moment zum Besinnungsaufsatz würde, entwirft „In the fog“ ganz bei-läufig Studien zu drei Prototypen: den impulsiven Aktionisten (Burov), den sich durchwieselnden Opportunist (Voitik) und schließlich den skrupulöse Moralisten (Sushenya).
Gegen das Böse können alle drei nichts ausrichten, sie werden sterben. Wobei es den Opportunisten noch am Leichtesten trifft, während der Moralist die Leichen der gefallen Gefährten bis ans Ende seiner Kräfte mitschleppt.
Ein weiterer ganz großer Wurf bei diesen Filmfestspielen: auch ein Kandidat für die „Goldene Palme“.
Ein Regisseur, der sich im Laufe seiner inzwischen langen Karriere ständig weiter entwickelt hat, ist David Cronenberg. Von seinen, gelegentlich ans Krude grenzenden Anfängen („Shivers“, 1975, Videodrom“, 1983) sind seine Filme im Laufe der Zeit immer komplexer und vielseitiger, der optische Schock überflüssig geworden.
Nach seiner Freud/C.G.Jung-Annäherung „A dangerous method/Dunkle Begierde“ jetzt also „Cosmopolis“ nach Don DeLillo: Eric Packer (Robert Pattinson) ist ein junger, höchst erfolgreicher Finanzjongleur. Seine mit allen Hightech-Schikanen ausgerüstete Stretchlimousine ist ihm Büro und Zuhause in Einem: im Moment möchte er allerdings nur eins: zum Friseur. Der hat sein Geschäft aber am Ende der Stadt: nur schrittweise kommt das Auto voran. Bewacht von Security braucht sich Eric um seine Sicherheit keine Sorgen machen.
Er empfängt Gäste, auch Frauen für eine schnelle Nummer. Das hat ihm sein Arzt zur Entlastung der Prostata empfohlen. Mit Genugtuung nimmt Eric zu Kenntnis, dass seine Finanzen in Ordnung sind – obwohl draußen die Volksseele kocht, weil ein Banken-Crash die Wirtschaft kollabieren ließ.
Nach „Naket Lunch“ nach Burroughs und J. G. Ballards „Crash“ ist „Cosmopolis“ das dritte Buch, das als unverfilmbar galt und dessen sich Cronenberg angenommen hat. In seiner eisigen Bildersprache hat er diesmal die gelegentlich indiffernte literarische Vorlage sogar übertroffen. Ideal besetzt in der Hauptrolle mit Robert Padingson, dem Vampir aus dem „Twilight“-Filmen. Das hätte man dem Schönling gar nicht zugetraut bzw. Cronenberg gibt ihm gewohnt vampiristische Züge. Ein Kammerspiel in der Stretchlimousine – das ist neu.
Dabei übt sich Cronenberg auch bei „Cosmopolis“ in der Kunst der Langsamkeit. Sie entspricht der stockenden, aber unaufhaltsamen Fahrt des Eric Packer in den gesamtgesellschaftlichen, aber auch persönlichen Abgrund. Wobei er wie Sergei Loznitsa vom Zuschauer Geduld einfordert. Das ist gut so – angesichts der gemeinhin auf der Leinwand überbordenden Hektik. Mal sehen, wie die Jury dieser Filmfestspiele auf diese Heraus-forderung reagiert… Das Gros der Journalisten bei der Pressevor-führung heute morgen reagierten verstört…. Auch Pattingson-Fans werden bei „Cosmopolis“ ebenso wenig auf ihre Kosten kommen wie kürzlich bei „Bel Ami“…