Film als Ausdruck der Befindlichkeiten einer Gesellschaft zeigt sich besonders eindrucksvoll am Beispiel der gegenwärtigen russischen Filmproduktion. Die Filme erreichen den deutschen Zuschauer ausschließlich als DVD oder Blu-ray. Es dominiert der patriotische Historienfilm.
Die nach wie vor wichtigste Epoche in der russischen Filmgeschichte waren die 1920er Jahre: Sergej Eisenstein und Wesevolod Pudowkin machten den „Sowjetischen Revolutionsfilm“ international bekannt. Sie hatten auf die weitere Entwicklung der Filmkunst großen Einfluss. Weniger bekannt, aber nicht weniger bedeutend war Lew Kuleschow. Ebenfalls nicht nur als Regisseur, sondern auch als Film-Theoretiker. Die Berücksichtigung des sogenannten „Kuleschow-Effekt“ gehört bis heute zu den Grundlagen der Film-Montage.
Kuleschow kombinierte die immer gleiche Aufnahme eines Schauspielers mit Bildern von einem Teller Suppe, einem Sarg, einem kleinen Mädchen und einem Frauen-Akt. Durch diese Verbindung entsteht beim Zuschauer der Eindruck, dass sich im Gesicht des Schauspieler Hunger, Trauer, Freude oder Interesse spiegelt. Damit lieferte Kuleschow den Beweis für die Manipulierbarkeit des Zuschauers durch das Medium Film.
In der Edition Filmmuseum ist jetzt auf DVD „Po zakonu/Vor dem Gesetz“ von Lew Kuleschow erschienen. Eines seiner Hauptwerke und gleichzeitig einer der außergewöhnlichen Filme der Geschichte. Dabei setzte Kuleschow 1926 seine Theorie der Filmmontage in die Praxis um. Auf der Grundlage einer Kurzgeschichte Jack Londons drehte er einen der ersten osteuropäischen Western.
In der Zeit des Goldrausches im amerikanischen Westen sind fünf Glücksritter fündig geworden. Einer wird benachteiligt und bringt zwei seiner Kumpane um. Die Überlebenden seiner Attacke – ein Ehepaar – überwältigen und fesseln ihn. Daraus entwickelte der Regisseur ein raffiniertes Psychogramm über Täter und Opfer. Wobei der stumme Film als Stilmittel einer ausdruckslosen Gesellschaft benutzt wird, in Mitten einer entfesselten Natur.
„Blicke und Gesten scheinen dem Gestern des Melodrams zu entspringen, sie sind hier aber nur noch der fragmentarische Rest über-kommener Handlungs-und Genrerepertoires und enden im Nichts. Damit einher geht auch die für ‚Po zakonu‘ so signifikante Einheit von Exaltiertheit und Naturalismus, von Ausdrucksgewalt und Natürlichkeit und Realismus“
Das schreibt die Filmhistorikerin Barbara Wurm im Booklet zur DVD „Po zakanu/Nach dem Gesetz“. Außerdem im Bonusteil das einzige erhaltene Fragment des Films „Ihre Bekannte“, den Kuleschow un-mittelbar danach gedreht hat.
Das Ausgangsmaterial für die Abtastung der beiden Filme waren restaurierte Fassungen des Österreichischen Filmmuseums Wien. Die Musik stammt von dem Avantgarde-Komponisten Franz Reisecker, der sich vor allem mit seinen Stummfilm-Vertonungen einen Namen gemacht hat.
Der Stalinismus machte in den 1930er Jahren auch der sowjetischen Film-Avantgarde den Garaus. Sie wurde als „Formalismus“ gescholten und verpönt. Anschließend gab es während der „Tauwetterperiode“ unter Chrustschow zwar zaghafte Versuche an die große Vergangenheit anzuknüpfen, aber die Zensur hielt diesen Aufbruch in engen Grenzen.
Der wichtigste russische Filmemacher um 1960/70, Andrej Tarkowskij, wurde schließlich vertrieben. Er realisierte, bereits schwer krank, seine letzten Filme im Westen. Weder Glasnost noch Perestroika führten zu einer grundsätzlichen Erneuerung des Russischen Film. Persönlichkeiten wie Alexander Sokurov sind Ausnahmen. Gefragt ist nationalistisch eingefärbter Mainstream.
Mit großen Ambitionen hatte Sergej Bodrow seine Karriere als Filmemacher 1989 begonnen. Mit „Der Mongole“ kam er 2007 mit einer ambitionierten Großproduktion dem russischen Massengeschmack entgegen. Ein Biopic über Dschingis Khan, das es sogar zur Oscar-Nominierung schaffte. Übrigens koproduziert mit der Berliner X-Film.
Bodrow illustriert opulent Temugins Aufstieg zum weisen Staaten-enker Dschingis Khan. Dabei ging er mit den historischen Tatsachen ziemlich großzügig um. Die Absicht ist eindeutig: Eine charismatische Persönlichkeit sorgt für den Ausgleich der Gewalten und Einigkeit unter den Menschen. Aus dem Chaos erwächst ein großes Ganzes – bei dem natürlich Opfer nicht zu vermeiden sind.
Da ist Putins Russland-Bild nicht fern: „Der Mongole“ bietet nicht nur beachtliche Schauwerte, sondern hinter dem Historischen, einen aufschlussreichen Blick auf das russische Selbstverständnis der Gegenwart. Die DVD gibt es von Warner Home Video.
Optisch nicht weniger eindrucksvoll, politisch freilich noch etwas eindimensionaler inszenierte 2009 Andrei Borissow seinen „Dschingis Khan“. Der Khan als großer Führer.
Als DVD/Blu-Ray-Premiere hat Ascot Elite „Dschingis Khan – Sturm über Asien“ veröffentlicht. In Russland einer der kommerziell erfolg-reichsten Filme der letzten Jahre. Noch vehementer an die gebeutelte russische Seele rührt Wladimir Bortko mit seiner Verfilmung der Gogol-Novelle „Taras Bulba“ – ebenfalls 2009.
Unter dem Titel „Steppensturm – Der Aufstand der Kosaken“ ist Bortkos Film ebenfalls als DVD-Premiere von Ascot Elite veröffent-licht worden. Der Regisseur hat sich mit seiner subtilen Verfilmung von Bulgakows „Hundeherz“ einen Namen gemacht. Bei diesem bunten Schlachtengemälde einer Führer-Natur ging Wladimir Bortko in die Vollen – im Geiste wie in der Form. Aufrechte Kosaken gehen für Mütterchen Russland stahlblauen Auges in den Tod. Böse Polen sind dafür verantwortlich.
Aber sie erwartet am Ende die gerechte Strafe… Schon lange nicht mehr hat man in einem Film derart unverhohlen Führerkult und Chauvinismus erlebt. Dabei scheint der Regisseur vor allem an der naturalistischen Darstellung unterschiedlicher Foltermethoden besonderen Gefallen gefunden zu haben.
„Jaroslaw der Weise“ gilt als einer der Gründerväter Russlands im 11. Jahrhundert. Kein Wunder, dass russische Produzenten den Herrscher als Vorlage für eine filmische Heldengedenkveranstaltung nutzten: „Ritterfürst Jaroslaw“ heißt der Film, der mit enormem Aufwand von Dimitri Korobin im vergangenen Jahr gedreht wurde – als Blu-Ray-Premiere von Pandastorm zu haben:
Ebenfalls drastisch, mit liebevollem Blick auf blutige Details, schildert „Ritterfürst Jaroslaw“ wie ein Mann in schwerer Zeit für Veränderung zum Guten sorgt. Dafür von seinen Vasallen aber absolute Ergebenheit fordert.
Der filmische Rückgriff auf die Geschichte gibt Aufschluss über die Seelenlage des russischen Publikums heute. Einmal mehr erweist sich das Medium als Seismograph eines gesellschaftspolitischen Zustands einer Nation. Dabei spielt die Verklärung einer vermeintlich großen Vergangenheit als Hoffnung für die Gegenwart eine wesentliche Rolle.
Da erweist sich Kuleschows Endzeitvision „Nach dem Gesetz“ von 1926 von den Historienfilmen der Gegenwart gar nicht so weit entfernt. Die aufschlussreichen Beispiele des russischen Films zum Zustand des Landes kosten zwischen 8 und 22 Euro.