Eine Entdeckung für Wessies bei der Berlinale: „Berlin-Ecke Bundesplatz“: eine der schönsten Langzeitdokumentationen deutscher Provenienz. Seit 1986 begleiten die Filmemacher Hans-Georg Ulrich und Detlef Gumm ihre Nachbarn rund um den Bundesplatz in Berlin-Wilmersdorf mit der Kamera. Ein Gegenstück zu den wesentlich bekannteren „Kinder von Golzow“ von Winfried und Barbara Junge. Im Regionalprogramm des RBB macht „Berlin-Ecke Bundesplatz“ seit Jahren Furore. Am Rande der an diesem Wochenende zu Ende gehenden Berliner Filmfestspiele 2013 stellten Ulrich und Gumm neue Folgen ihrer Dokumentation vor. Das gesamte Werk – insgesamt über 800 Minuten Film auf fünf DVDs präsentierte bei dieser Gelegenheit Absolut Medien.
Der „Bundesplatz“ ist ein bürgerliches Großstadt-Quartier mit einem repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt, wie er auch anderswo zu finden ist. Hans-Georg Ullrich und Detlev Gumm begegnen ihren Mitmenschen einfühlsam und nehmen zurückhaltend Anteil an den nicht immer einfachen Schicksalen. Da ist zum Beispiel Marina Storbeck. Die gelernte Krankenschwester mag Kinder und wohl auch Männer. Obwohl ihr diese Kombination das Leben schwer macht, ist sie zum zweiten Mal schwanger, als die ersten Filmaufnahmen stattfinden. Die Väter kommen nur spät und am Rande vor.
Knapp 20 Jahre später können die beiden Töchter von Marina auf ein fast identisches Schicksal wie ihre Mutter zurück blicken. Auch sie sind allein erziehend.
Ein Haus weiter am Bundesplatz lebt Frau Tomaschefski. Selbst nicht mehr die Jüngste, kümmert sie um ältere Mitbewohnerinnen und geht mit ihnen in den nahen Park spazieren. Es ist alles nicht mehr so erfreulich wie früher…
Im ehemaligen Blumenladen von Frau Tomaschefski wird der junge Krankenpfleger Dirk in absehbarer Zeit einen sehr erfolgreichen privaten Pflegedienst eröffnen. Im Moment macht ihm sein Beruf aber noch zu schaffen.
Auch Familie Yilmaz lebt vis-á-vis: voll assimiliert! Ulrich und Gumm begleiten die Einwanderer aus der Türkei auf dem Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft. Für Junior Yilmaz ist die Heimat der Eltern sowieso weit weg. Er will Fußball-Profi werden und zwar bei Herta BSC!
Über Jahrzehnte haben die Dahms ihre Bäckerei am Bundesplatz als Familienbetrieb geführt. Älter geworden, finden sie für ihr Unternehmen einen türkischstämmigen Nachfolger und sind damit sehr zufrieden.
Über den Dächern von Berlin-Wilmersdorf ist der Arbeitsplatz von Michael Creutz, dem Schornsteinfeger. Zu Beginn der Dreharbeiten von „Berlin – Ecke Bundesplatz“ befragen die Filmemacher den 26jährigen in luftiger Höhe. Er plant eine solide Existenz.
Zunächst möchte Schornsteinfeger Michael allerdings zu Arnold Schwarzenegger nach Kalifornien, um seine Bodybuilding-Karriere zu kultivieren. Doch daraus wird nichts. Aber aus dem Bezirksschorn-steinfeger – mit Frau und Kind. Im Trend hat er seine Schornsteinfegerfirma um das Angebot von Kaminöfen erweitert. Sein Fazit: man lebt…
Auch andere wollen am Bundesplatz hoch hinaus. Der Schornsteinfeger hat am Anfang seiner Kariere zwar einen Porsche, aber in der Belle Etage fährt man Rolls: das Großbürgertum der Weltstadt Berlin ist am Bundesplatz nämlich ebenfalls zu Hause.
Leider wagte sich Herr Salm in der Wende-Euphorie auf das glatte Parkett der Spekulanten und gerät ganz schnell auf die schiefe Bahn. Von da an geht es bergab – direkt in den Knast! Inzwischen lebt er etwas bescheidener wieder am Bundesplatz. Er bezeichnet das Bild, das Ulrich und Gumm von ihm geben als „Authentisch“!
„Authentisch“ betrifft nicht nur die 25jährige Achterbahn im Leben des Rechtsanwalts genau, sondern die gesammelten Chroniken von „Berlin-Ecke Bundesplatz“. Ein bunter filmischer Bilderbogen der Zeitgeschichte aus privater Perspektive. Spannend von der ersten bis zur letzten Minute! Dabei immer diskret ohne peinliche Schlüssellochperspektiven.
Auf fünf DVDs mit ausführlichem Booklett für 65 Euro. Das Buch zur Serie von Claudia Lessen ist im Beb.ra-Verlag erschienen und kostet 16.95 Euro.