Vor allem die kleineren Länder Lateinamerikas überraschen in letzter Zeit mit aufregenden neuen Kinoerlebnissen. Aktuell startet diese Woche in Deutschland „Der Schamane und die Schlange“: ein Film, wie man ihn noch nie gesehen hat. Regisseur ist kolumbianische Filmemacher Ciro Guerra („La sombra del Caminante“,2004). Er ging mit den Möglichkeiten des Spielfilms und des Dokumentarischen auf die Suche nach dem Lebensgefühl und der Kultur der indigenen Bevölkerung Amazoniens. Das heißt auch die Spuren suche einer Bevölkerung am Rande des Untergangs. „Der Kuss der Schlange“ – so die wörtliche Übersetzung des Originaltitels – hat somit den Charakter eines Requiems…
Ein Film in Schwarz-weiß und CinemaScope; gedreht in einem unwegsamen Teil Amazoniens! Inhaltlich oszilliert der Film auf zwei Ebenen: folgt den Aufzeichnungen des Anthropologen Theodor Koch-Grünberg (1874-1924). Der zeitweilige Direktor des Stuttgarter Linden-Museums dokumentierte im Rahmen mehrerer Forschungsreisen indigener Bevölkerungsgruppen im Amazonsgebiet. Dabei war er einer der ersten Forscher seiner Zunft, dem es um Akzeptanz und Anerkennung ihres kulturellen Selbstwerts der Menschen ging, denen er begegnete. Außerdem stützt sich Ciro Guerra und sein Ko-Autor Jacques Toulemonde Vidal auf die Forschungsergebnisse und Erfahrungsberichte des amerikanischen Botanikers Richard Evans Schultes (1915-2001), der als „Vater“ der Ethnobotanik gilt. 40 Jahre nach Koch-Grünberg hat er ebenfalls den Amazonas bereist. Dabei interessierte ihn vor allem der Umgang der Eingeborenen mit Bewusstsein erweiternden Pflanzen.
Als (fiktives) Verbindungsglied zwischen den beiden Handlungssträngen führt Guerra den Schamanen „Karamakate“ ein: bei Koch-Grünberg ein athletischer zorniger junger Mann, der sich vehement gegen die Ausbeutung und Unterdrückung durch die Weißen zu wehren versucht. 40 Jahre später ist aus ihm ein gebrochener alter Mann geworden, der sich über das Ende seines Volkes und dessen Kultur keine Illusionen mehr macht. Die Rollen des jungen wie des alten Schamanen werden von indigenen Laiendarstellern verkörpert. Dadurch bekommt der Film ein Höchstmaß an Authentizität.
Ciro Guerra schreibt dazu: „Wir wollen die Erinnerung an ein Amazonien retten, das nicht mehr existiert. Hoffentlich lässt dieser Film eine kollektive Erinnerung entstehen, denn Persönlichkeiten wie Karamakate, diese weisen Krieger und Schamanen gibt es nicht mehr. Der moderne Eingeborene ist ein anderer Typ. Zwar hat sich noch viel Wissen erhalten, doch das meiste ist verloren gegangen, zusammen mit vielen Kulturen und Sprachen. Dieses Wissen wurde durch mündliche Überlieferung weitergereicht, es wurde nie schriftlich festgehalten…“
Dieser Film ist der eindrucksvolle Versuch, etwas davon zu erhalten. Er gehört zum Besten, das es im Moment zu sehen gibt!