Deutschland 2009
Regie: Baran Bo Odar
Mit Ulrich Thomsen, Wotan Wilke Möhring, Katrin Sass, Burghart Klaussner, Sebastian Blomberg, Jule Böwe
Kinostart: 19. August 2010 (NFP)
Jan Costin Wagners Roman „Das Schweigen“ erregte 2007 internationales Aufsehen. Mit den dramaturgischen Mitteln des Krimis hat der Autor das Psychogramm pädophiler Täter geschrieben und zwar ohne das Thema sexueller Missbrauch von Kindern für eine spekulative Horrorgeschichte auszubeuten. Vielmehr ging es ihm um den Einbruch des Ungeheuerlichen in die sogenannte Normalität des Alltags. Unter dem Titel „Das letzte Schweigen“ ist Wagners Buch jetzt von dem 32jährigen Regisseur Baran Bo Odar verfilmt worden. Der Film wurde mit großem Erfolg bei den diesjährigen Filmfestspielen von Locarno uraufgeführt. Jetzt ist „Das letzte Schweigen“ auch in den deutschen Kinos zu sehen:
„Pärissinen hatte das Mädchen vom Fahrrad gestoßen, es in das Feld gezerrt, und er hatte die beiden nicht mehr gesehen, nur noch das Fahrrad, das auf dem Weg gelegen hatte, der Lenker in einer falschen Position…“
Mit diesem Satz beschreibt Jan Costin Wagner im Anfangskapitel seines Romans „Das Schweigen“ indirekt die Vergewaltigung und Ermordung eines Teenagers. Aus der Perspektives eines jungen Mannes, den mit dem Täter dieselbe pädophile Neigung verbindet und der das Verbrechen aus der Distanz beobachtet. Das Ganze ist inzwischen 33 Jahre her.
Für seine Verfilmung von Jan Costin Wagners Roman hat Baran Bo Odar die Handlung von Finnland in die westfälische Provinz verlegt und die Perspektiven verschoben. Im Gegensatz zur Vorlage steht nicht der ermittelnde Kommissar im Zentrum der Handlung, sondern der Mittäter im Geiste von damals. Er heißt im Film Timo (Wotan Wilke Möhring) und lebt mit Frau und Kindern in einer schmucken Neubausiedlung. In die hochsommerliche Ferienstimmung platzt die Nachricht, dass genau an derselben Stelle wie damals die kleine Sinikka ermordet wurde.
Ort und Umstände des Verbrechens deuten auf denselben Täter hin. Das sind aber auch die einzigen Anhaltspunkte für die Polizei. Die Ermittlungen drohen nicht allein an den dürftigen Indizien zu scheitern, sondern an persönlichen Animositäten und privaten Problemen der Beamten, die mit dem Fall beschäftigt sind. Der junge Polizist David (Sebastian Blomberg) steht nach dem Krebstod seiner Frau unter Schock, seine Kollegin Jana (Jule Böwe) ist hochschwanger und dadurch nur bedingt belastbar. Der erfahrene Kommissar Krischan (Burghart Klaussner) wurde als Opfer einer polizeiinternen Intrige in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Er hat damals im ersten Mordfall er mittelt und versucht jetzt seinen jungen Kollegen zur Seite zu stehen.
Eine Gesellschaft im Ausnahmezustand – wie paralysiert in der Hitze eines Hochsommers. Außergewöhnlich intensiv übersetzte Baran Bo Odar die literarische Vorlage auf die Leinwand. Deshalb ist aus „Das letzte Schweigen“ auch mehr geworden, als ein solider „Tatort“-Krimi. Die perversen Täter sind mehr als nur gruselige Staffage.
„Das letzte Schweigen“ verweigert sich der entspannenden Krimi-Unterhaltung zum Feierabend. Dafür zeigt der Film sensibel, was passiert, wenn labile Menschen mit fatalen Neigungen immer mehr in die Isolation abdriften und schließlich den Bezug zur Realität verlieren. Oder versuchen, sich eine Parallelwelt aufzubauen. Beides führt über kurz oder lang zur Katastrophe. Die Reaktion einer hilflosen Gesellschaft wird eindrucksvollen am Beispiel der überforderten Kripo-Beamten dargestellt. Ein heikles Thema für einen Spielfilm. Das er Baran Bo Odar ohne peinliche Ausrutscher gelungen ist, hängt neben der verhaltenen Art der Inszenierung mit der exzellenten Besetzung der Hauptrollen zusammen: Katrin Sass, Jule Böwe, Burkhard Klaussner und Wotan Wilke Möhring geben dem Film auch darstellerisch eine außergewöhnliche Qualität. Im Gespräch mit Herbert Spaich erläutert Regisseur Baran Bo Odar seinen Film
[media id=180 width=20 height=400]
Die literarische Vorlage, der Roman „Das Schweigen“ von Jan Costin Wagner, gibt es als Goldmann Taschenbuch (ISBN 978-3-442-45917-9). Preis: €7,95
SWR2 Journal am Morgen, 18.8.2010
[media id=178 width=320 height=20]