„….Das verworrene Getöse, das der Hase im Gedächtnis bewahrte – bevölkert von Tieren der Vorzeit, dürren Bäumen gleichenden Tempeln, von Kriegen, an deren Ziele die Krieger dann gelangten, wenn sich die Ziele schon geändert hatten -, machte ihn zugleich launischer und scharfsinniger. Wie es seine Gewohnheit war, blieb er eines Tages zu der Stunde stehen, in der die Sonne im Zenit die Bäume daran hindert, Schatten zu werfen, und er hörte nicht nur einen Hund bellen, sondern viele Hunde, in rasendem Lauf durch die Landschaft unterwegs. Mit einem Satz überquerte der Hase den Weg und begann zu rennen. Die Hunde jagten im Durcheinander hinter ihm her. ‚Wohin soll es gehen?’, rief der Hase mit zitternder Stimme sein Scherzwort. ‚Ans Ende deines Lebens’, schrien die Hunde mit ihren Hundestimmen.“
Diesen Ausschnitt aus „La liebre dorada/Der goldene Hase“ der argenti-nischen Dichterin Silvina Ocampo hat Claude Landmann seiner monu-mentalen Autobiographie als Motto vorangesellt. Damit erklärt sich auch der Titel „Der patagonische Hase“.
Den Auftakt macht ein Diskurs über die menschliche Kreativität beim Vollzug der Todesstrafe – vom simplen Erschießen über die spanische Garotte und die Guillotine bis zur Enthauptung durch einen Schwerthieb in China.
Die Beschäftigung mit dem Tod zieht sich als roter Faden durch Landsmanns leben und mündet in seinem filmischen Hauptwerk „Shoah“, der neunstündigen Spurensuche nach dem Unbeschreiblichen, dem Holocaust an den Juden durch den deutschen Faschismus. An diesem einzigartigen Dokumentarfilm hat Claude Lanzmann zwölf Jahre –zwischen 1973 und 1985 – gearbeitet – sie ist zum Inhalt seines Lebens geworden. Deshalb bestimmt der industriell betriebene Massenmord an den europäischen Juden auch die Autobiographie des Juden Claude Lanzmann. Zu „Shoah“ sagte Lanzmann einmal, das Gerüst des Films sei die Radikalität des Todes: „Ist letztlich die Vernichtung“.
Mit einer betont sachlichen Beharrlichkeit, die nur Lanzmann beherrscht, interviewte er für „Shoah“ auch die Täter – zum Beispiel den ehemaligen SS-Unterscharführer Franz Suchomel über seinen Dienst in den Ver-nichtungslagern Sobibor und Treblinka. „Shoah“ ist auch das Herzstück der großen „Claude Lanzmann Gesamtausgabe“ von Absolut Medien. Sie enthält alle sechs Filme auf 10 DVDs mit einer Gesamtlänge von insgesamt 22 Stunden und macht damit die Lanzmann-Memoiren anschaulich:
„Ich hatte keine Ahnung welchen Weg ich einschlagen sollte, stocherte da und dort herum, sondierte in alle Richtungen…“, schreibt Lanzmann über den Anfang seiner Arbeit an „Shoah“. Als wichtige Orientier-ungshilfe erwies sich Raoul Hilbergs Standartwerk „Die Vernichtung der europäischen Juden“. Der renommierte Historiker kommt in „Shoah“ ausführlich zu Wort.
Von Anfang an stand für Claude Lanzmann fest, dass er in seinem Film keine Archivaufnahmen verwenden würde. Er schreibt dazu:
„Der stärkste und einleuchtendste Grund für diese Weigerung wurde mir erst klar, als ich begriff, mit was für einem Film man mich betraut hatte. Ich hatte schon Filme gesehen, die auf der Grundlage von Archivbildern gedreht wurden, wie etwa ‚Le Temps du ghetto“ von Frédéric Rossif, über den ich mich ärgerte, weil er seine Quellen nicht nannte und nichts über die Herkunft der verwendeten Dokumentarfilme sagte, die zum Großteil von den Propaganda-Kompanien der Wehrmacht gedreht worden waren“.
Deshalb setzte Lanzmann auf Gespräche und das Zeigen der gegenwärtigen Verhältnisse. Es ging ihm um die – wie er sagt – Zeugen der Vernichtung. Er schreibt:
„’Shoah’ hatte nicht zum Ziel, über Dinge zu informieren, die sich ebenso in Geschichtsbüchern nachschlagen lassen. Im Zentrum stehen die realen Orte von Heute und die Gesichter, die Körper der Zeugen. Es gibt keinen Kommentar, keine Off-Stimme. Es ist wirklich die Rehabilitierung der Zeugenschaft!“
Bevor mit den eigentlichen Dreharbeiten zu „Shoah“ begonnen werden konnte, waren umfangreiche Recherchen notwendig. Davon berichtet Claude Lanzmann ausführlich in seinen Memoiren. Etwa von einer gespenstischen Begegnung mit dem NS-Hofarchitekten Albert Speer in Heidelberg, nach dessen Entlassung aus dem Gefängnis:
„Speer holte Schachteln mit Zeichnungen, und ich musste mich überwinden, seine Produktion anzuschauen, wobei er mir jeweils die Kosten und die Größe der fertigen Gebäude nannte. Während wir redeten, war es dunkel geworden, er hatte sich wieder in einen breiten Sessel gesetzt, ich in einen anderen. Er machte kein Licht, wir setzten das Gespräch in völliger Dunkelheit fort, er bot mir weder etwas zu essen noch zu trinken an, und ich verließ ihn um Mitternacht ohne den geringsten Wunsch, ihn wiederzusehen…“
Albert Speer kommt im fertigen Film nicht vor. Aber es war eine Begegnung, die sich prägend auf die Arbeit ausgewirkt hat – wie Lanzmann an anderer Stelle betont. Wörtlich heißt es da:
„Wenn ich heute daran zurück denke, erscheint mir manches an meinen Nachforschungen dunkel, ja unverständlich. Ich war besessen von den letzten Momenten der Verurteilten oder, was in den meisten Fällen das-selbe war, von den ersten Momenten der Ankunft in einem Todeslager, vom Durst, von der Kälte – was bedeutete es zum Beispiel, bei minus zwanzig Grad nackt zu warten, bis man an der Reihe war, in einer der Gaskammern von Treblinka oder Sobibor zu sterben?
Die Dokumentation „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“ hat Claude Lanzmann 2001 aus Material montiert, das für „Shoah“ gedreht, aber nicht verwendet wurde: das Thema: der einzige Aufstand von Häftlingen in einem Konzentrationslager. Weniger bekannt als das Hauptwerk „Shoah“, gelang es Lanzmann hier am Beispiel von Yehuda Lerner, einem der Überlebenden, eine Innenansicht des Vernichtungslagers zu zeichnen. Man müsse „Shoah“ im Kopf haben, um den Sobibor-Film zu verstehen, erklärt Claude Lanzmann im umfangreichen Booklett zur Werkausgabe.
Der Schweizer Arzt Maurice Rossel an: Rossel hatte 1944 als Delegierter des „Internationalen Komitees vom Roten Kreuz“ Theresienstadt besucht und war auf ein Täuschungsmanöver der SS hereingefallen. In seinem Bericht hatte er anschließend geschrieben: „Wir möchten sagen, dass unser Erstaunen ungeheuer groß war, im Ghetto eine Stadt zu finden, die ein fast normales Leben lebt…“ Das Ganze war für den Besuch inszeniert worden. Im Gegenteil herrschten im Durchgangslager Theresienstadt grauenhafte Zustände. Über das raffinierte Täuschungsmanöver der Nazis hat Lanzmann 1979 mit dem inzwischen 80jährigen Maurice Rossel ein ausführliches Interview geführt. Ursprünglich ebenfalls für „Shoah“ gedacht, füllt auch dieses Kapitel einen eigenen Film: Er heißt „Un vivant qui passe/Ein Lebender geht vorbei“. Lanzmann hat ihn bereits 1997 hergestellt, aber erst in diesem Frühjahr wurde er von Absolut Medien auf DVD veröffentlicht. Die enorm wichtige Dokumentation eines vergessenen Kapitels der NS-Geschichte gibt es natürlich auch innerhalb der Werkausgabe.
Erst in diesem Jahr hat sich Claude Lanzmann daran gemacht, um einen weiteren Aspekt aufzuarbeiten, der keinen Platz in „Shoah“ gefunden hat. Sein Gespräch mit Jan Karski. Karski war 1943 als Kurier der polnischen Exilregierung in Washington, um Franklin D. Roosevelt in einem detailierten Report von der systematischen Ermordung der Juden durch das NS-Regime zu berichten. In der Dokumentation heißt „Der Karski-Bericht“ und basiert auf einem ausführlichen Gespräch, das Lanzmann 1979 mit Karski geführt hat.
Außerdem in der „Claude Lanzmann Gesamtausgabe“ von Absolut Medien, das Debut des Filmemachers von 1973 „Pourquoi Israel/Warum Israel“ und seine umstrittene Annäherung an die israelische Armee „Tsahal“ von 1994. Dazu finden sich in seiner Autobiographie ebenfalls aufschlussreiche Anmerkungen.
In „Der patagonische Hase“ geht es natürlich nicht nur um den Filmemacher Lanzmann, der erst in reiferen Jahren zu diesem Metier fand. Wir haben es vor allem mit enorm elegant geschriebenen Memoiren eines französischen Intellektuellen zu tun, der mit geistreicher Distanz die Höhen und Tiefen des 20. Jahrhunderts reflektiert. Dabei in jedem Satz seiner Bedeutung sicher. Dass er dabei ab und an die Bodenhaftung zu verlieren droht, ändert nichts am Lesegenuss dieses Buches:
„Claude Lanzmann: Der patagonische Hase“ ist im Rowohlt Verlag erschienen. Zum Preis von 24.95 Euro. Die Werkausgabe auf DVD kostet 99.90 (Empf. VK) Euro. Es gibt die Filme aber auch separat. Da liegen die Preise dann zwischen 19 und 80 Euro.