Das hat es seit Langem nicht gegeben: Landunter in Cannes zur Festspiel-zeit: Landregen und Windböen. So unwirtlich kann die Cote d’Azur im Mai sein. Fliegende Händler mit Regenschirmen haben Konjunktur. Durchweicht der Rote Teppich zum Palais du Festival. Polizisten einer Eliteeinheit dirigieren mit stahlhartem Blick, durchweichter Galauniform und Trillerpfeife die Menschenmassen und den Straßenverkehr. Unter dem Regenschirm und sichtlich frierend begrüßte Festivaldirektor Thierry Frémaux seine Gäste Michael Haneke und die Schauspielerlegenden Emmanuelle Riva (89) und Jean-Louis Trintignant (82). Im Mittelpunkt des heutigen Tages zwei großartige Filme von zwei Meistern in der Kunst des Filmemachens: „Liebe“ von Michael Haneke und „Like someone in love“ von Abbas Kiarostami, der sich damit wohl entgültig aus dem Iran verabschiedet hat.
Nach seinem großen internationalen Erfolg mit „Das weiße Band“ ist Michael Haneke mit „Liebe“ seinem Themenspektrum der endgültigen Dinge treu geblieben. Tod und Sterben: „Georg und Anna sind um die 80, kultivierte Musikprofessoren im Ruhestand. Die Tochter, ebenfalls Musikerin, lebt mit ihrer Familie im Ausland. Eines Tages hat Anna einen Unfall – Bewährungsprobe für die Liebe der Beiden“.
So kurz und so knapp formuliert Haneke den Inhalt seines Films im Presseheft: präzise bis an die Schmerzgrenze ist das künstlerische Markenzeichen dieses Regisseurs. „Liebe“ ein Film über den un-ausweichlichen Tod im Alter.
Annas „Unfall“ ist ein Schlaganfall, von dem sie sich nie wieder erholen wird. Das Leben wird zur Last. Georg versorgt seine Frau mit Hingabe. Aber auch seine Kraft geht zu Ende. Ein Altersheim kommt nicht in Frage; die Pflegekraft ist ihm zu lieblos. Deshalb entläßt er sie.
Die Stippvisiten der Tochter (Isabelle Huppert) hinterlassen ein schales Gefühl. Ihre halbherzigen Ratschläge was man tun sollte und was das Beste wäre… Haneke erspart dem Zuschauer nichts – dass kennen wir von „Bennys Video“ und „Funny Games“. In der Präzision seiner cineastischen Virtuosität kann er sich sogar das symbolträchtige Auftauchen einer Taube erlauben, die sich in die Wohnung von Georg und Anne verirrt hat.
Und dann natürlich die Schauspieler! Die große Emmanuelle Riva verkörpert die sterbenden Anne mit einer Authentizität, das einem der Atem stockt. Ebenso Jean-Louis Trintignant als ein Mann, der erleben muss, das Sterben kein kultivierter Akt ist.
Also wieder ein ein ganz großer Wurf, an dem die Jury bei ihren Preis-Entscheidungen nicht vorbei kommen wird. „Liebe“ gehört zu den ganz großen Momenten des Filmjahres!
Ganz anders: Abbas Kiarostami, der für seinen neuen Film „Like someone in love“ nach Japan gereist ist. Wohl der Maxime folgend, möglichst weit weg vom Reich der Ayatollas und dem Regime Achmadinedschads! Der Iran hat damit wieder einen seiner wichtigsten Filmemacher verloren. Auch thematisch entfernte sich Kiarostami so weit wie möglich von seinen früheren Arbeiten im Heimatland.
Neben seiner artifiziellen Erzählweise hat er freilich auch seine Vorliebe für Geschichten erzählen beim Autofahren mit in die Diaspora genommen. „Like someone in love“ beginnt mit einer irritierenden Bistro-Szene. Junge Mädchen scheinen auf Freier zu warten. Man möchte es ihnen eigentlich nicht zutrauen.
Eine Hübsche hängt sich an einen älteren Herrn. Auch seine Ambitionen bleiben vage. Sie verschmäht seine selbstgekochte Suppe. Er ist Witwer und bietet sich an, seine Bekanntschaft zur Uni zu fahren – denn sie ist Studentin. Da wartet ein junger Mann, der sich dem Älteren als Verlobter des Mädchens vorstellt. Er glaubt, es handle sich um ihren Großvater…
Aus der etwas verdrehten Geschichte entwickelte Kiarostami eine federleichte Komödie, die man ihm in dieser Nonchalance gar nicht zu-getraut hätte. Ein liebevoller Blick auf seine Protagonisten machen daraus eine zutiefst warmherzige Angelegenheit. Ein wohltuendes Gegengewicht zu Hanekes unbestechlichem Blick auf die Unausweichlichkeit des Todes.
Also: schon wieder zwei Filme, die dem diesjährigen Festival de Cannes alle Ehre machen. Morgen stehen mit Alain Resnais und Ken Loach zwei weitere Altmeister des europäischen Films auf der Gästeliste…