Ein hinterhältiges Wetter herrscht dieses Jahr beim Filmfestival in Cannes: erst knallt die Sonne vom Himmel, kurz darauf schüttet es wie aus Kübeln und es weht ein kalter Wind. Bereits zu Beginn der Festspiele wurde aus dem Tresor von Chopard, Geschmeide im Wert von angeblich einer Million Euro geklaut, mit dem die Stars für ihre Auftritte geschmückt werden sollten. Dann ist auf Christoph Waltz – heuer Mitglied der internationalen Jury – mit einer Platzpatronen-Pistole ein „Attentat“ verübt worden. Seit dem tut er keinen Schritt mehr ohne Security-Bewachung. Das kommt davon, wenn man als Österreicher zwei Oscars für Nebenrollen bei Tarantino bekommt. Dabei stehen in Cannes finster blickende Polizisten gleich rudelweise an jeder Ecke bzw. im Regen, wenn sie nicht gerade mit viel Tatütata durch die Stadt brausen.
Der Jury-Präsident 2013, Steven Spielberg, verbringt trotzdem seine Zeit an der Cote d’Azur vorzugsweise auf einer Jacht – mit 16 Zimmern – vor der Küste von Cannes. Angeblich fühlt er sich da sicherer als an Land. Der Regisseur mit einem Hang zum dramatischen Überschwang (zuletzt mit „Lincoln“) hat anscheinend noch keinen James-Bond-Film gesehen…
Oder waren es die Wettbewerbsfilme der letzten Tage, die ihn verstört haben. Da gab es von Kids in L.A. auf Diebestour bis zu den Mitarbeitern Mexikanischer Drogenkartelle, die keine Hemmungen kennen, manche Schrecken zu sehen. Die Gemeinheiten nehmen kein Ende:
Wir wissen aus Erfahrung, das Joel & Ethan Coen nicht zu trauen ist. Auch wenn ihre Filme noch so harmlos anfangen. Das ist bei ihrem neusten Werk „Inside Llewyn Davis“ der Fall, der heute Abend Premiere hat: New York 1961: in einer nicht sonderlich gemütlichen Kneipe in Greenwich Village: Llewyn Davis singt „Hang me, oh hang me“ zur Gitarre. Der Sänger ist angetreten, dem pausbäckigen Folksong der 50er einen bisher ungewohnten Biss zu geben. Mit Gesellschaftskritik und Aufrühren von Tabus im Inhalt und Blues im Ausdruck. Die Reaktion des Publikums ist verhalten, der kommerzielle Erfolg lässt auf sich warten.
Auch im Privaten verfolgt Davis das Pech. Seine Abneigung gegen Kondome führt dazu, dass er beträchtliche Summen für Abtreibungen bei seinen Freundinnen ausgeben muss. Dann hat Davis neuerdings den Kater von Bekannten am Hals, bei denen er manchmal nächtigt. Vielleicht wird ja in Chicago alles besser. Da soll es einen Musikpro-duzenten mit Ambitionen für Unkonventionelles geben.
Bei garstigem Wetter macht sich Llewyn Davis auf die Reise. Der Kater kommt zwar zwischendurch abhanden, taucht aber glücklicher Weise wieder auf. Das ist aber auch das einzig Positive: In Chicago kann Davis nicht nämlich überzeugen und macht er sich enttäuscht wieder auf den Heimweg: zum Schluss singt er wieder „Hang me, oh hang me“…
Die Coen-Brothers hatten für ihren Llewyn Davis ein reales Vorbild: Dave van Ronk (1936-2002), der kurz vor seinem Tod seine Autobiographie „The Mayor of MacDougal Street“ veröffentlichte. Es ist eben bei Heyne als Taschenbuch erschienen, unter dem Titel „Der König von Greenwich Village. Die Autobiographie“. Das Buch gilt als Quellenwerk zur Frühzeit des politischen Folksongs in den 1960er Jahren, van Rong als Mentor u. A. von Bob Dylan.
Die Coen haben sich freilich nur was den Zeitgeist und Zeitkolorit betrifft, von van Rong inspizieren lassen. Mit ihm hat ihr Llewyn Davis denn auch nur sehr entfernt Ähnlichkeit. Davis ist vielmehr ein Bruder im Geiste von Barton Fink und anderen Irrläufern aus Coens Welt. Ein Verstörter, gegen den sich die Welt verschworen hat – nicht nur der renitente rote Kater: Das Schicksal, die Frauen, das Wetter. Alle haben es auf Llewyn Davis abgesehen. In gewohnter Qualität und einem Sarkasmus am Rand des Zynischen beschreiben Joel & Ethan Coen wieder einen, der kein Fettnäpfchen auslässt und mit traumwandlerischer Sicherheit immer das Falsche im falschen Moment tut, dabei bockig beratungsresistent, was er sich eigentlich gar nicht leisten kann!
Toll gespielt von Oscar Isaac, der bisher nur eine kleine Karriere als Nebendarsteller gemacht hat. Er nicht nur spielen, sondern auch singen. John Goodman – diesmal als mitgenommener Jazzer – darf nicht fehlen. Und dann – sehr witzig – Justin Timberlake als Schnulzensänger. „Inside Llewyn Davis“ ist also wieder ein richtig gemeiner Coen-Film. In Deutschland gibt es ihn leider erst Anfang nächsten Jahres zu sehen.
Die Erkenntnis, dass Holländer mitunter einen ziemlich herben Humor haben können, ist nicht neu. Vor allem Regisseur Alex van Warmerdam ist ein filmender Meister in dieser Beziehung. „Grimm“, „Waiter“ und „The last Days of Emma Blank“ sind dafür Beispiele. Durchaus passend zum Coen-Film folgt heute am späten Abend sein neuestes Werk „Borgmann“ – einer der hinterhältigsten Filme der letzten Zeit.
Der Film setzt beim Zuschauer allerdings ein Faible für abgründigen schwarzen Humor voraus und dass er schon einmal etwas von Zombies gehört hat.
Camille Borgman hat seine Verfolger – unter Anderem einen bewaffneten Pfarrer – erfolgreich abgeschüttelt. Jetzt klingelt er bei einer schicken Villa und fragt ganz freundlich, ob er Duschen dürfe. Natürlich wird ihm das verwehrt. Als Camille andeutet, er kenne Marina, die Dame des Hauses näher, wird der Hausherr ausfallend und verprügelt den Bittsteller. Eine Ehekrise folgt. Da hilft es nichts, dass Marina beteuert, sie kenne den Fremden wirklich nicht, der Keim des Argwohns ist geschickt gepflanzt, eine Ehekrise folgt. Als der Gatte, außer Sichtweite ist, holt Marina den vermeintlichen armen Landstreicher ist Haus. Das hätte sie nicht tun sollen, denn Camille ist das Oberhaupt einer Zombie-Bande.
Seit Romeros „Nacht der lebenden Toten“ hat sich das Maß der Sozialisation bei den Untoten beträchtlich verbessert. Heute beißt man nicht mehr, sondern infiltriert subtil, kennt die Spielregeln, d. h. die Frustrationen und Neurosen der besser Gestellten in der Gesellschaft – die ohnehin bereits über Affinitäten eines Zombie-Daseins verfügen, sich als Anlaufstellen bestens eignen.
Lustvoll geht Alex van Warmerdam bei „Borgman“ diesen Pfad konsequent zu Ende. Nach „Inside Llewyn Davis“ der zweite richtig lustige Film im bisherigen Programm der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes!