Es kommt selten vor, dass der beste Film eines Festivals auch den Hauptpreis bekommt. Aber der bunt gemischten Jury in diesem Jahr, die Jane Campion als Präsidentin hatte, ist wohl klar gewesen, dass sie es bei „Winterschlaf“ von Nuri Bilge Ceylan mit einem Solitär in der gegenwärtigen cineastischen Landschaft zu tun haben.
Ceylan hat bereits mit seinen Filmen „Uzak“, „Iklimler“, „Üc Maymun“ und „Bir zamanlar Anadolu’da“ seinen einzigartigen Blick nicht nur auf die Türkei, sondern die Welt bewiesen, in der wir leben. Fragile Beziehungen, Entfremdung zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen Stadt und Land, den Menschen und der Natur, gehören zum Kanon seiner mit großer Delikatesse inszenierten Filme, die er in der Regel selbst schreibt, produziert und schneidet. Also ein klassischer Auteur!
Mit „Winterschlaf“ ist ihm etwas ganz Großes gelungen; den dreieinhalb Stunden, die der Film dauert, sieht man – trotz Original mit englischen Untertiteln – gebannt zu; verbunden mit dem anschließenden Wunsch, ihn gleich noch einmal zu sehen. So virtuos in seiner Machart, so voller erstaunlicher Details ist er. Über die Qualität der Schauspieler muss kein Wort verloren werden, so gut sind sie.
Zum Inhalt nur so viel: Aydin, ein Intellektueller mit Vergangenheit, betreibt zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Frau und seiner Schwester ein Hotel. Es verdankt seinen Charme und besondere Atmosphäre dem Umstand, dass es in eine der uralten Tuffstein-Höhlen in Göreme eingebaut ist. Eine Attraktion für Touristen, die das Besondere suchen. Ein Ort von enormer Symbolkraft – allein wegen der beiden Religionen Christentum und Islam, die in den Fresken der Höhlen ihre Spuren hinterlassen haben – die Einen haben sie gemalt, die Anderen haben den Heiligen die Gesichter ausgekratzt…
Aydin, der eine eigene Kolumne in einer linken Istanbuler Wochenzeitschrift hat, ist vor Ort ein ziemlicher feudaler Landlord. Auch sonst driften bei ihm intellektueller Anspruch und gelebte Wirklichkeit ziemlich weit auseinander. Wie Ceylan daraus eine filmische Handlung macht, ohne dass daraus ein Traktat wird, ist schlicht sensationell! Immerhin betrachtet er sich als Schüler im Geiste von Gilles Deleuze.
Es ist zu hoffen, dass „Winterschlaf“ möglichst schnell einen deutschen Verleih findet. Er ist auch eine Reflektion über die Lage der türkischen Intellektuellen der Ära Erdogan. A propos: Nuri Bilge Ceylan hat seine „Goldene Palme“ jenen gewidmet, die bei ihrem Protesten auf dem Istanbuler Taksim-Platz gestorben sind…
Angesichts dieser „Goldenen Palme“ rücken die anderen Preise der diesjährigen Filmfestspiele von Cannes etwas in den Hintergrund: das Alice Rohrwacher für ihren Aussteiger-Bienenzücher-Film „Le Meraviglie“ den „Grand Prix“ bekommen hat, irritiert ebenso wie die „Regie“-Palme an Bennett Miller und seinen braven Ringer-Film „The Foxcatcher“. Da darf Channing Tatum kräftig die Muskeln spielen lassen und wir lernen einmal mehr, das Geld den Charakter verdirbt und Koksen einer Profi-Sportler-Karriere abträglich ist. Wenn „The Foxcatcher“ ein paar Jahre früher gekommen wäre, hätte Herr Ullrich was lernen können! Aber da ist – wie beim Helden dieses Films – jetzt alles zu spät.
Das Jean-Luc Godard immerhin zur Hälfte den „Grand Prix“ der Jury für seinen anstrengenden Film-Essay „Adieu au langage“ bekommt, ist wohl seinem Alter und seiner angeschlagenen Gesundheit geschuldet. Mit Alain Resnais ging es ja nach seiner Auszeichnung bei der diesjährigen Berlinale auch ganz schnell…
Wenn der älteste Beiträger zum diesjährigen Festival etwas bekommt, muss auch der jüngste was kriegen, sagte sich wohl die Jury unter Mutter Jane und gab Xavier Dolan für seine „Mommy“ die andere Hälfte des „Prix du Jury“. Und der adrette Junge hat sich so darüber gefreut, dass er alle Mütter, Schwiegermütter und Omas im Publikum – trotz seiner nicht mehr ganz angesagten Ohrringe – zu Tränen rührte!
Die „Drehbuch“-Palme an Andrey Zvyagintsev meint wohl weniger seine ungelenke Regie bei „Leviathan“ als vielmehr den Mut des Regisseurs, die rigide Ämterwirtschaft und die Korruption des Putin-Regimes anzuprangern. Wer sich nicht beugen will, kommt hinter Schloss und Riegel!
Nichts zu mäkeln gibt es auch an den Darsteller-Palmen für Julienne Moore („Maps to the Stars“) und Timothy Spall („Mr. Turner“), der bei seiner Dankesrede wohl verkannte, dass die Palmenverleihung eine sakrale, also ernste Handlung ist und daraus Comedy machte, was nicht alle lustig fanden…
Tragisch war allerdings der Auftritt von Sophia Loren! Sie ist bald 80! Auf der Bühne des Palais du Festival drohte die inzwischen Gertenschlanke gar zu stürzen. Dabei hätte sie sich vermutlich nicht nur einen Schlüsselhalsbruch zugezogen, sondern das Platzen sämtlicher Nähte bewirkt, die die kosmetische Chirurgie in den letzten 40 Jahren bei ihr angebracht haben. Ein Anblick zum Gruseln: aber vorzüglich als abschreckendes Beispiel dafür geeignet, wenn man meint, sich dem natürlichen Alterungsprozess widersetzen zu können.
Das irgendwann muss einmal Schluss sein, hat immerhin der greise Jahrhundert-Präsident Gilles Jacob – des von ihm maßgeblich geprägten „Festival du Cannes“ – begriffen; zwar spät, aber immerhin: müde winkend ist er heute Abend von der Bühne abgetreten… Thierry Fremaux wird aufgeatmet haben! Ob denn was Besseres nachkommt, wird sich im nächsten Jahr beim „68. Festival du Film“ zeigen!
….fast vergessen: unser Wim ist auch nicht umsonst nach Cannes gefahren: er hat den „Prix Special du certain regard“ erhalten. Das ist zwar nur ein Verlegenheitspreis,aber auch nicht viel häßlicher als die „Goldene Palme“, auf der auch noch Werbung für den edlen Spender „Chopard“ aufgedruckt ist… Etwas fürs Gästezimmer!