Am Sonntagabend sind die 65. Internationalen Filmfestspiele von Cannes mit der Verleihung der Goldenen und Silbernen Palmen zu Ende gegangen. Zum zweiten Mal wurde der Österreichische Regisseur Michael Haneke für seine französisch-deutsche Koproduktion „Amour/Liebe“ mit der „Goldenen Palme“ als bester Film ausgezeichnet. Er hat die Auszeichnung bereits 2009 für „Das weiße Band“ erhalten. „Amour/Liebe“ galt von Anfang als Favorit für die höchste Auszeichnung des „Festival de Cannes“ – obwohl die Konkurrenz mit Namen wie Alain Resnais, David Cronenberg oder Abas Kiarostami groß war.
Die Familie ist nicht mehr zu retten! Kinder suchen das Weite. Die Eltern leben in Scheidung und hoffen auf neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung; Mann und Frau natürlich getrennt. Meistens vergeblich. Ihm ist ein unstetes Leben als Türsteher lieber, als die gesicherte Existenz zu Hause. Sie treibt es weit weg – bis nach Kenia. Nicht auf Sinnsuche, sondern nach gutem Sex.
Viel Geld macht schon lange nicht mehr glücklich. Jetzt kann es aber von einem Moment zum nächsten Moment perdu sein; der simple Gang zum Friseur das Ende der Welt bedeuten. Wenn man es in klassischer Partnerschaft bis ins Alter ausgehalten hat, kommt da dann das dicke Ende. Die Mühsal des Sterbens.
Alles nicht sehr beruhigend, was man da in den letzten knapp zwei Wochen auf den Leinwänden des Festival de Cannes zu sehen bekam. Die Krise hat das Kino eingeholt; Traumfabrik ade! Nah, manchmal schmerzlich, fast zu nah bleiben Filmemacher rund um den Erdball an der Wirklichkeit einer Gesellschaft zwischen Gestern und Morgen.
Besonders nachdrücklich fand dafür der rumänische Regisseur Cristian Mungiu in seinem mit zwei Palmen ausgezeichneten Film „Hinter den Hügeln“ filmischen Ausdruck: in einem entlegenen Frauenkloster wird aus Angst vor den Anmutungen der Gegenwart die Vergangenheit konserviert – mit katastrophalen Folgen.
Ganz nah an den aktuellen politischen Entwicklungen in seinem Heimatland und ihre Auswirkungen auf die Menschen bleibt der Ägypter Yousry Nasrallah bei „Baad el Mawkeaa“: ein einfacher Beduine gerät in die Mühlen der Revolution und droht daran zu zerbrechen. Die einstigen Kategorien von Gut und Bösen stimmen auf einmal nicht mehr.
Einer der wenigen Filmemacher, der in seinem in Cannes präsentierten Film, dem Helden von der traurigen Gestalt eine hoffnungsvolle Zukunft erlaubt, ist der Menschenfreund Ken Loach: „Angel’s share“ handelt von einem jungen Mann, der im Zweifelsfall rot sieht und zuschlägt. Nachdem er Vater geworden ist und einsieht, dass es so nicht weiter gehen kann, findet er clever einen Weg ins bürgerliche Leben: allerdings durch ein nicht ganz legales Schlupfloch: die Welt will halt betrogen sein. Ken Loach wurde für „Angel’s Share“ mit dem „großen Preis der Jury“ bedacht.
An dem Punkt, wenn sich nichts mehr richten lässt, hat Michael Haneke „Amour/Liebe“ angesiedelt. Man muss schon lange nach-denken, bis einem ein annähernd gleich bedeutender Film einfällt. Vielleicht von Ingmar Bergman oder Andrej Tarkowskij. Aber selbst sie haben Alter, Sterben und Tod nicht so klar, inhaltlich wie dramaturgisch „lupenrein“ in den filmischen Griff bekommen wie Haneke. Er musste dafür einfach die „Goldene Palme“ bekommen! – bei einem Filmangebot, das in Cannes schon lange nicht mehr so gut war, wie in diesem Jahr: bei dem sich alle auf faszinierende Weise mit dem Leben in unsicheren Zeiten des Übergangs beschäftigen. Die meisten kommen nach Cannes demnächst auch in die deutschen Kinos…