Ein herber Auftakt im offiziellen Teil der Sektion „Wettbewerb“ der Berlinale 2013 am frühen Morgen: „W Imie (Im Namen des…)“ aus Polen. Regisseurin Malgoska Szumowska macht uns mit Adam bekannt, einem jungen Pfarrer auf einem Dorf, seiner Last mit dem Zölibat – kurzfristige Erleichterung vom spermatogenen Hochdruck findet er in der Badewanne – mit der Anmache durch junge Landfrauen und lästigen Rabauken. Das ist alles sehr bedauerlich und im Grund unerfreulich wie der ganze Film.
Und unerfreulich ging es am Nachmittag weiter mit „Promised Land“, mit dem der einst respektable Regisseur Gus Van Sant einen Tiefpunkt seiner bisherigen Karriere erreicht hat: er verfilmte das Drehbuch seiner Hauptdarsteller und Produzenten Matt Damon und John Krasinski. Das war ein Fehler!
Die beiden haben sich eine, ach so wahre Geschichte auf den Leib geschrieben; über einen Multi, der auf dem flachen Land arme Farmer bei der Erschließung von Erdgasvorkommen über den Tisch zieht. Aber Matt Damon macht da am Ende nicht mehr mit. Bravo! Ganz arg, wenn dazu im Stil von Simon & Garfunkel auch noch gesungen wird.
Gesang an der Schmerzgrenze gibt es auch in der Verfilmung des Musical „Les Miserables“, der seine Premiere als „Berlinale Spezial“ erlebt. Russell Crowe und Hugh Jackman als Opernsänger bringen das im Sozialkitsch nur so wabernde Werk locker an den Rand der Parodie. Gut, das Viktor Hugo vorher gestorben ist… Man mag es nicht glauben, dass ein respektabler Regisseur wie Tom Hooper („The King‘s speech“) diese Schmonzette zu verantworten hat.
Doch der Tag war nicht ganz verloren: Ulrich Seidl sei Dank! „Paradies: Hoffnung“:
Die Mama macht allein Urlaub in Kenia, die Tante ist in Niederösterreich auf Missionsreise. Damit die 13jährige Melanie nicht allein zu Haus und ohne Aufsicht ist, muss das übergewichtige Kind die Ferien in einem „Diätcamp“ in der tiefsten österreichischen Provinz verbringen.
Im Camp geht es streng zu: das mentalen Abnehmtraining wird durch allerlei körperliche Fitness-Programme in Wald und Flur sowie in der Turnhalle ergänzt. Hier hat ein Ex-Soldat das Sagen: Nach dem Motto „Wir werden eine Menge Spaß haben. Wir werden trainieren, bis die Schwarten krachen und die Kilos purzeln, meine Damen!“ hat er sichtbar Spaß daran, die adipösen Kinder zu quälen. Damit sie bei der Diät keinen körperlichen Schaden nehmen, wacht ein Arzt über ihre Gesundheit.
Am Blutdruck von Melanie ist nichts auszusetzen, dafür spricht sie umso mehr auf den Onkel Doktor selbst an. Der ist ein gestandenes, nicht mehr ganz taufrisches Mannsbild mit einem rasanten Sportwagen. Bei der Sprechstunde mit Melanie zieht er schon mal sein Hemd aus und lässt sich von ihr die behaarte Brust abhören. Da schlägt Melanies Herz höher….
Leider haben die Doktorspiele dann doch bald ein Ende – weil es dem Arzt mit den grauen Schläfen gelingt, seine Lolita-Ambitionen zu zügeln. Für Melanie bricht eine Welt zusammen.
Dem Schwarm nachzutrauern hilft nicht weiter – ebenso wie es mit dem Abnehmen nicht viel bringt im Camp. Das Paradies ist weit und Melanie um ein paar Hoffnungen ärmer.
Ebenso wie die Tante am Heiland und ihren Glauben verzweifelt, die Mutter in Kenia nicht die Liebe, sondern das Geschäft mit der sexuellen Unterversorgung einsamer europäischer Frauen findet. Ulrich Seidls „Paradies“-Zyklus ist ein Triptychon der Versagung: nach „Paradies: Liebe“ in Cannes, „Paradies: Glaube“ in Venedig hatte jetzt der Schlussteil der Trilogie „Paradies: Hoffnung“ in Berlin Premiere. In der von ihm gewohnten Art und Weise, inszeniert Ulrich Seidl mit Profi-und Laiendarstellern blinde Stellen in der gegenwärtigen Ge-sellschaft nach. In dokumentarischer Manier mit Realton.
Auch bei „Paradies: Hoffnung“ bewegt sich der Regisseur auf einem sehr schmalen Grad zwischen Mitleid und Gnadenlosigkeit. Der Gefahr, seine übergewichtige Protagonistin dem Publikum als Karikatur vorzusetzen, begegnet Seidl durch unbedingte Solidarität und einem liebevollen Blick. Das ändert freilich nichts an seiner pessimistischen Sicht der Dinge.
Gleichwohl ist ihm mit seiner „Paradies-Trilogie“ ein großes Werk zum Zeitgeist gelungen, das im gegenwärtigen europäischen Kino einzigartigen Rang hat. „Hoffnung“ ein erster Höhepunkt im „Wettbewerbsprogramm“ der diesjährigen Berlinale!