Deutschland/Norwegen 2012
Regie: Matthias Glasner
Mit Jürgen Vogel, Birgit Minichmayr, Henry Stange, Stig Henrik Hoff, Iren Reppen
Kinostart: Herbst 2012
Sie wollen weit weg von Kiel einen neuen Anfang wagen: Niels (Jürgen Vogel), Maria (Birgit Minichmayr) und ihr halbwüchsiger Sohn Markus (Henry Stange), der nicht gefragt wurde, aber fleißig norwegischen Sprachunterricht nimmt. Nach Norwegen soll es gehen und zwar fast ans Ende der Welt nach Hammerfest, wo die Sonne im Winter nicht aufgeht, dafür im Sommer rund um die Uhr scheint. Niels hat hier nicht nur einen verantwortungsvollen Posten in einer Erdgas-Raffinerie, wo er gleich eine passende Geliebte findet, Maria arbeitet in einer Sterbeklinik. Auf der Heimfahrt vom Spätdienst überfährt Maria ein junges Mädchen und begeht Fahrerflucht. Es gibt keine Zeugen. Auch Maria erfährt erst in den nächsten Tagen aus der Zeitung, was sie angerichtet hat. Sie dachte im ersten Moment an einen Wildschaden oder Ähnliches. Maria und Niels entscheiden aus Angst vor den Konsequenzen erst einmal ruhig zu halten und zu schweigen. Das gelingt sogar…
Nach dem Triebtäter in „Der freie Wille“ und den hemmungslosen Pädophilen in „This is love“ wieder jemand in einem Matthias Glasner-Film, der Anderen zum Verhägnis wird und sich dessen dabei auch noch bewusst ist. Diesmal aber nicht in einem Ausnahmezustand und nicht bei einer Ausnahmepersönlichkeit, die sich hinter einer quasi „normalen“ Fassade verstecken muss:
Maria ist ein guter Mensch, der sich aufopferungsvoll um seinen Nächsten kümmert, die Sex-Eskapaden ihres Mann klaglos hinnimmt: „Ich liebe dich!“, sagt sie einfach und überzieht weiter die Betten. Diese „Samariterin“ hat plötzlich den Tod eines Kindes verschuldet. Schlimm genug, dass sie die Fußgängerin in der Nacht übersehen, angefahren und nicht angehalten hat. Das Unfallopfer hat noch gelebt und eine Rettung wäre möglich gewesen. Schwerverletzt ist es in der Winternacht erfroren.
Glasner fragt, kann es Gnade für etwas derart Schlimmes geben. Egal ob es aus Unachtsamkeit, Feigheit oder Opportunismus verursacht wurde? Im Letzten nicht! Zwar lässt sich mit der Schuld besser leben, wenn man sie sich vor der Welt und vor sich selbst offen eingesteht und die Verfehlung bekennt, aber ausgelöscht wird sie sie damit nicht.
In einem der stärksten Momente in Glasners Film „Gnade“ besuchen Nils und Maria die Eltern des getöteten Kindes und stellen sich als Täter vor. Die Folge ist stumme Ratlosigkeit darüber, was jetzt das Angemessene wäre – bei den Einen wie bei den Anderen. Atemberaubend wie der Regisseur diesen Moment dramaturgisch in der Spannung hält. Da erinnert „Gnade“ an entsprechende Augenblicke in den Werken der großen „Theologen“ unter den Regisseuren des letzten Jahrhunderts, Ingmar Bergman, Robert Bresson, Carl Theodor Dreyer und Andrej Tarkowskij.
Auch formal bedeutet „Gnade“ eine Steigerung gegenüber den früheren Filmen Matthias Glasners. Das Norwegen im Winter ist mehr als nur schicke Kulisse. Die kalte schneebedeckte Weite sig-nalisiert eine Ahnung von himmelnaher Erlösung durch die Gnade. Aber die ist allein eine Frage der Verdrängung. Vielleicht bleibt der menschlichen Seele nichts anderes übrig, als genau das als Gnadenerweis der Natur zu begreifen. Zusammen mit seiner Drehbuchautorin Kim Fupz Aakeson erteil uns Glasner mit seinem wunderbaren Film eine entsprechende Lektion. Ein großer Wurf, der die diesjährige Berlinale adelt und die internationale Konkurrenz auf die hinteren Ränge verweist. Nicht zu vergessen, die schauspielerischen Leistungen von Birgit Minichmayr, Jürgen Vogel und des gesamten Ensembles!