Deutschland 2010 – Regie: Matti Geschonneck, mit Gudrun Ritter, Michael Gwisdek, Jürgen Vogel
Seit der so genannten Wende haben sich in der deutschen Filmlandschaft Produktionen etabliert, die mehr oder weniger nostalgisch einen Blick zurück auf den DDR-Alltag werfen. Dazu gehören auch kritische Anmerkungen wie „Das Leben der Anderen“. In der Regel sind es westdeutsche Regisseure, die sich um die filmische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit kümmern. Seltener sind Beschreibungen von Filmemachern, die den „real existierenden Sozialismus“ aus eigener Anschuung kennen. Ein Beispiel dafür kommt jetzt mit „Boxhagener Platz“ in unsere Kinos:
Ostberlin 1968: „Tag der Republik“. Oma Otti (Gudrun Ritter) hat keine Zeit für Politik. Zu Hause liegt ihr Gatte im Sterben – es ist ihr sechster. Die anderen fünf liegen auf dem Friedhof. Die tägliche Grabpflege will erledigt sein. Außerdem muß sich Oma Otti auch noch um ihren 12jährigen Enkel Holger (Samuel Schneider) kümmern, weil seine Eltern berufstätig sind. Immerhin kann ihr Holger auf dem Friedhof zur Hand gehen. Der sieht mit Erstaunen, dass Großmutters Wirkung auf das andere Geschlecht auch im Alter nicht nachgelassen hat. So macht der Wittwer Karl Wegner (Michael Gwisdek) Oma Otti unverhohlen Avancen – und das auch noch auf dem Friedhof: Herr Wegner ist ein distinguierter Herr mit guten Manieren.
Das kann man von Fisch-Willy (Horst Krause) nicht unbedingt sagen, der sein Geschäft an der Ecke hat und auch hinter Oma Otti her ist.
Ebenfalls eine wichtige Rolle im Alltag der Menschen am „Boxhagener Platz“ spielt die Kneipe „Feuermelder“. Sie hat zwar keinen besonders guten Ruf, ist aber als Kontakt-und Informationsbörse eminent wichtig. In die Beschaulichkeit platzt die Bombe von Fisch-Willys Tod. Ermordet in seinem eigenen Laden.
Torsten Schulz hat seinen Roman einen pfiffigen Berlin-Roman geschrieben. In der Tradition von Alfred Döblin und Erich Kästner. Der Autor – selbst Filmemacher – bearbeitete die Tragikomödie für den Film, den Matti Geschonneck inszenierte. Unter der Oberfläche blitzen die Spannungen und Verspannungen im DDR-Alltag durch. Etwa bei Holgers Vater (Jürgen Vogel), der als VoPo zum unteren Ende des Spitzelsystems gehört. Schlaglichter auf das Leben in einer Diktatur, in der jeder Schritt – ein Mord erst recht – von der Obrigkeit mit Argusaugen verfolgt wurde. Aus dem sarkastischen literarischen Blick auf die Untiefen im angeblich real existierenden Sozialismus, ist ein nuancenreicher Film geworden. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben alle Mitarbeiter von „Boxhagener Platz“ vor und hinter der Kamera, die DDR-Wirklichkeit selbst erlebt. Das erhöhte das Maß des Authentischen auf beiläufige und dabei doch präzise Weise: Matti Geschonneck ist der Sohn des berühmten Brecht-Schauspielers Erwin Geschonneck.
Ihm stand bei diesem Film ein vorzügliches Ensemble zu Verfügung. Im Mittelpunkt Gudrun Ritter als Oma Otti. Über Jahrzehnte war sie der Star des „Deutschen Theaters“.
Der selbstverständliche Umgang mit dem, was man gerne als „Berliner Schnauze“ bezeichnet, ist typisch für Geschonnecks Inszenierung des „Boxhagener Platz“. Da tümelt nichts, da übt sich auch keiner in klamm-heimlicher Ostalgie. Der Film ist ein in jeder Beziehung genauer Blick auf die Normalität eines Staatswesens im permanenten Ausnahmezustand.