Berlinale 2018 „Retrospektive – Weimarer Kino neu gesehen“
Die diesjährige Berlinale-Retro ist seit langem wieder einmal nicht nur ein tradiertes Beiwerk zur „Berlinale“, sondern ein programmatischer Höhepunkt der Filmfestspiele. Zum Einen handelt es sich um rare Produktionen, die bisher nicht zu sehen waren, zum Anderen um Filme wie „Kameradschaft“ von G. W. Pabst oder Dieterles „Ludwig der Zweite, König von Bayern. Schicksal eines unglücklichen Menschen„, die zwar keiner neuen Beurteilung bedürfen, aber in bisher nie gesehener technischer Qualität gezeigt werden. Summa summarum: filmgeschichtlichen Raritäten.
Ein vergessener Juwel des frühen deutschen Tonfilms ist Das Abenteuer einer schönen Frau“ von Hermann Kosterlitz (Henry Koster) von 1932. Eine wunderbar mit Zweideutigkeiten spielende, enorm elegante Komödie, in der Lil Dagover als emanzipierte Bildhauerin ihr komödiantisches Talent ausspielt. Sie tut sich einen Boxer als Modell auf und lässt sich von ihm in die Technik des „Clinch“ einführen. Als das Folgen hat, denkt sie nicht daran, den Vater des Kindes zu heiraten. Erst nachdem lieb bittet, hat sie ein Einsehen…
Weniger Glück mit einem Boxer hat Brigitte Helm in Abwege (G.W. Pabst, 1928): der Rüpel geht ihr an die Wäsche, um sie zu vergewaltigen. Einer der verstörenden Momente in diesem zu Unrecht übersehenen Film des Regisseurs. Seine wahren Qualitäten sind allerdings auch erst jetzt erst wiedera ngesichts der vorzüglichen Restaurierung durch das Münchner Filmmuseum festzustellen. Sie entspricht der Premierenfassung. Wie Pabst aus einer Beinahe-Ehebruchs-Geschichte ein böse camouflierendes Zeitgeiststück macht, steht in nichts seinen wesentlich bekannteren Filmen nach. Brigitte Helm als frustrierte Gattin eines vielbeschäftigten Anwalts macht ernüchternde Ausflüge in die Halbwelt. Oben wie Unten befindet sich die Gesellschaft in einer bedrohlichen Schieflage. In immer raffinierten Roben zelebriert Brigitte Helm den „Tanz auf dem Vulkan“. Auch ein Film, der den Exitus der Weimarer Republik zum eigentlichen Thema hat.
Keine Gnade mit dieser Welt hat Alexis Grandowsky in Das Lied vom Leben (1931), zu dem Victor Trivas und Walter Mehring das Drehbuch geschrieben haben. Zweifellos der ungewöhnlichste deutsche Film der Weimarer Periode. Der russische Theater-und Filmregisseur hat sich aus der jungen Sowjetunion bei einer Gastspielreise nach Deutschland abgesetzt. War Praktikant bei Max Reinhardt, um dann 1931 für die „Terra“ „Das Lied vom Leben“zu drehen. Dabei verbindet er Experimentelles mit Dokumentarischem und Semi-Dokumentarischen zu einem provokanten Potpourri über die schwankende deutsche Seelenlage um 1930. Verknüpft Songs von Brecht mit dem gerade aktuellen Hit „Baby“ von Friedrich Holländer nach Texten von Walter Mehring. Allerdings ergänzt durch böse Verse, die bei der Interpretation durch die „Comedian Harmonists“ nicht vorkommen. Der Film irritierte die Zensoren dermaßen, das sie mehrere Instanzen brauchten, um ihn dann doch mit geringfügigen Schnitten freizugeben. In der Retrospektive wurde der extrem selten gezeigte Film auf einer einigermaßen akzeptabel 35mm-Kopie der „Deutschen Kinemathek“ vorgeführt.
Eine Entdeckung aus der Murnau-Stiftung: der Zweiteiler Christian Wahnschaffe von 1921. Regie: Urban Gad, der bisher ausschließlich als früher Regisseur Asta Nielsens bekannt war. Anke Wilkening hat – trotz desolater Materiallage – diese Jakob Wassermann-Verfilmung weitgehend restauriert. Die Geschichte vom reichen Mann (Conrad Veidt), der sein Vermögen mit den Armen teilen möchte. Die erste „Russische Revolution“ von 1905 hat ihn dazu motiviert. Doch der gut gemeinte Versuch löst eine Katastrophe aus. Inspiert vom expressionistischen Theater inszeniert Gad Schlüsselszenen auf Treppen und Galerien, die an Leopold Jessners Bühnenbilder erinnern. Neben Veidt gehören Fritz Kortner, Margarete Kupfer und Werner Kraus zum Ensemble.
Nur dem Titel nach bekannt war bisher die Wedekind-Verfilmung Frühlings Erwachen von Richard Oswald. Der Vielfilmer mit dem gelegentlichen Hang zur argen Kolportage hat damit 1929 sein Meisterwerk geschaffen. Zeitlos zurückhaltend gelang ihm eine punktgenaue Adaption der Vorlage. Als böses und nach wie vor präsentes Relikt der Obrigkeit rückt Oswald immer wieder den Turm der Potsdamer Garnisonkirche ins Bild der Gegenwart. So als habe er geahnt, welche Rolle die Garnisonkirche in naher Zukunft spielen sollte.
Um einen lange verloren geglaubten Klassiker des Bergfilms, Der Kampf ums Matterhorn“ (1928, Regie: Mario Bonnard, Nunzio Malasomma) hat sich das Deutsche Filminstitut, Frankfurt verdient gemacht. Die Rekonstruktion kann sich sehen lassen. Weniger die üppig fantasievoll wuchernde Geschichte um die Erstbesteigung des Matterhorns macht die Qualität des Films aus, sondern Sepp Allgeiers furiose Kameraarbeit. Dahinter bleibt Luis Trenkers Neuverfilmung des Stoffes von 1937/38 unter dem Titel „Der Berg ruft“ weit zurück, selbst wenn er sich mehr an die historischen Fakten gehalten hat.
Ebenfalls nahezu unbekannt ist Die Unehelichen von Gerhard Lamprecht. Auch er ein Regisseur, der kein Genre scheute und nach 1933 auch den Nazis zu Diensten war. Anschließend erwarb er sich Meriten als Gründer der „Deutschen Kinemathek“. Ganz dem Stil der „Neuen Sachlichkeit“ verpflichtet, schildert Lamprecht am Beispiel von Waisenkindern in einer Pflegefamilie das Elend am Rande der Gesellschaft in der Krisenrepublik von Weimar. Die Hilflosigkeit der Ämter angesichts offensichtlicher Misshandlungen. Das macht „Die Unehelichen“ bestürzend aktuell, zumal der Film Pauschalverurteilung vermeidet. Als außerordentlich fällt dabei Lamprechts Geschick bei der Führung seiner Kinderdarsteller auf. Das verbindet diesen Film mit Lamprechts „Emil und die Detektive“ (1931) und „Irgendwo in Berlin“ (1946). Hier fühlte sich der Sohn eines Gefängnispfarrers in seinem Element. Weniger scheint ihm dagegen Hermann Sudermanns „Der Katzensteg“ gelegen zu haben. Als „Preußenwestern“ im Programmheft zur Retro apostrophiert, arbeitet sich Lamprecht schwerfällig an der Deutschtümelei der Vorlage ab – meistens in Nachtszenen. Ein ambivalenter Film, der nicht so genau weiß, wo seine politische Heimat ist. Sicher ein typischer Film der 1920er Jahre. Leider ließ die 16mm-Fassung zu Wünschen übrig…
Das Ende vom Lied einer großen cineastischen Epoche markiert Ihre Majestät die Liebe von Joe May von 1931. Er versammelt besonders eindrücklich all die großen „Suporting“-Stars des deutschen Kinos der Zeit – von Kurt Gerron über Otto Wallburg bis zu Szöke Szakall und Ralph Arthur Roberts in einem komödiantischen Feuerwerk. Großartige Schauspieler, die selbst in kleinen Auftritten dem Film Glanzlichter aufsetzen. Dazu gehören die selten Filmauftritte des sogenannten Refrain-Sängers Leo Monosson mit dem Walter Murmann-Song „Ich denk an Mädi die ganze Nacht“. Sie alle wurden wie Hauptdarsteller Franz Lederer von den Nazis vertrieben bzw. ermordet. Übrigens hat Wilhelm Dieterle, der seit 1930 bei den Warner Brothers unter Vertrag war, bereits im selben Jahr ein amerikanisches Remake unter dem Titel „Her Majesty, Love“ gedreht – mit Ben Lyson und Marilyn Miller in den Hauptrollen. In der Rolle von Lias Vater debutierte W. C. Fields im Tonfilm – in der deutschen Fassung wird sie von Szöke Szakall verkörpert.
Weitere Film der „Berlinale Retrospektive 2018: „Weimarer Kino neu gesehen“: Das blaue Licht (L.Riefenstahl, 1932), Brüder (W. Hochbaum, 1929), Die Carmen von St. Pauli (E. Waschneck, 1928), Der Favorit der Königin (F. Seitz sen, 1922), Heimkehr (J.May, 1928), Der Himmel auf Erden (R. Schünzel, 1927), Im Auto durch zwei Welten ( C. Stinnes/C.-A. Söderström), Die Leuchte Asiens (F.Osten, 1925), Menschen im Busch F. Dalsheim, G. Pfeffer, 1930), Milak, der Grönlandjäger (B. Villinger, G. Asagaroff,1927), Morgen beginnt das Leben (W. Hochbaum, 1933), Opium (R. Reinert, 1919), Song. Die Liebe eines armen Menschenkindes (R. Eichberg, 1928), Sprengbagger 1010 (K.-L. Achaz-Duisberg, 1929).
Zur Retrospektive ist ein üppig illustriertes Begleitbuch im Verlag Bertz-Fischer erschienen.