Andres Veiels Spielfilmdebut „Wer wenn nicht wir“ wurde bei den diesjährigen Berliner Filmfestspielen mit dem „Alfred Bauer Preis“ ausgezeichnet und ist fünf Mal für den Deutschen Filmpreis nominiert worden – unter anderem als „Bester Film“. Seit letzten Donnerstag ist die sensible Beschreibung der fatalen Beziehung zwischen Gudrun Ensslin, Bernward Vesper und Andreas Baader im Kino zu sehen. Auch im Doku-Fiktionalen ist Veiel „seinem“ Thema treu geblieben: Das Kreuz mit den Vätern, Freiheit und Unterdrückung, gesellschaftliche und private Repression, ist der rote Faden, der sich durch die Arbeiten dieses Ausnahme-Filmemachers zieht.
In einer noblen, einzeln nummerierten „Andres Veiel Box“ der „Edition der Filmemacher“ wurden seine zwischen 1992 und 2004 entstandenen Dokumentarfilme auf fünf DVDs veröffentlicht. Darunter der selten gezeigte „Winternachtstraum“, das Debut von Andres Veiel, gedreht 1990/91. Ein Film über eine ältere Dame, die damals 83jährige Inka Köhler-Rechnitz.
Mitte der 1920er Jahre wurde ihre Karriere als Theaterschauspielerin radikal von ihrem arbeitslosen Ehemann gestoppt. Er verweigerte einem Theaterengagement seiner Frau die Zustimmung. Die formelle Unterschrift unter den Arbeitsvertrag einer verheirateten Frau durch den Gatten war damals obligat.
Als Halbjüdin überlebte Köhler-Rechnitz in ständiger Angst vor der Gestapo das „Dritte Reich“. Erst im Seniorenalter kam sie dann doch noch zum Theater: Für die Laienspielgruppe „Die Herzschrittmacher“ hat Andres Veiel das Stück „Die letzte Probe“ geschrieben und bei dieser Gelegenheit Inka Köhler-Rechnitz kennen gelernt. „Winternachtstraum“ dokumentiert die Proben zur „Probe“ am Görlitzer Theater. Ein Experiment und späte Wiedergutmachung für Inka Köhler-Rechnitz, die in ihrer Jugend in Görlitz nicht auftreten durfte.
Bereits bei „Winternachtstraum“ zeigt sich Veiels ungewöhnlich vielschichtige Art des Dokumentierens. Dabei bleibt der Macher nicht außen vor, sondern bringt seine persönliche Betroffenheit mit ein. Das Ergebnis ist eine außergewöhnlich komplexe Beschreibung des Generationendialogs und den Kampf um den künstlerischen Ausdruck.
Auch Veiels nächster Film „Balagan“ hat wieder mit seiner Affinität zum Theater zu tun: 1993 dokumentierte er ein Theaterexperiment. Diesmal von außerordentlicher politischer Brisanz: Das Projekt einer israelisch-palästinensischen Theatergruppe über die Gegenwärtigkeit des Holocaust gemacht. Titel: „Arbeit macht frei vom Toitland Europa“.
Im Booklet zu seiner Werkausgabe schreibt Andres Veiel dazu: „Ich fuhr nach Israel und traf auf Madi, die jüdische Hauptdarstellerin des Stücks. Ihrem Vater war auf dem Weg zum Vernichtungslager Sobibor die Flucht gelungen. Mit den Kindern sprach er nie davon. (…) Auch mein Vater – Wehrmachtsoffizier an der russischen Front – hatte nie von den grausamen Seiten seiner Kriegserfahrung gesprochen (…). Bei diesem Gespräch mit der israelischen Schauspielerin spürte ich eine starke Affinität zu ihr. Sie erschien mir, ohne das Leiden ihres Vaters mit meinem gleichsetzen zu wollen, in ihren Fragen an ihren Vater ‚seelenverwandt‘. Auch ich wollte etwas be-greifen – und dafür eine künstlerisch adäquate Form finden“.
„Balagan“ hatte zwar bei den Berliner Filmfestspielen eine vielbeachtete Premiere und wurde auch in den Kinos gezeigt. Einem breiteren Publikum ist Andres Veiel aber erst mit seinem 1996 entstandenen Dokumentarfilm „Die Überlebenden“ bekannt geworden.
Dabei machte sich der Regisseur auf Spurensuche nach drei Schulkameraden, die Selbstmord begangen haben. Dabei analysierte er was ihr Tod für die Hinterbliebenen bedeutet, die mehr oder weniger verdrängten Erschütterungen.
Zumindest von einem deutschen Filmemacher wurde hier zum ersten Mal das heikle Kapitel Suizid in einem überzeugenden Film behandelt. Ganz allgemein einer der wichtigsten Filme über Trauer und Trauerarbeit der letzten Jahrzehnte. In dem die Frage nach der Schuld und der nach dem Wie wäre der Freitod der jungen Männer zu verhindern gewesen mit großer Sensibilität gestellt wird.
Zeitgleich mit der Fertigstellung von „Die Überlebenden“ fand in Stuttgart-Stammheim der Prozess gegen das RAF-Mitglied Birgit Hogefeld statt. Sie war mit Wolfgang Grams in den Untergrund gegangen. Grams ist unter bis heute ungeklärten Umständen bei einer Polizeirazzia auf dem Bahnhof von Bad Kleinen im Juni 1993 getötet worden.
Den Tod des jungen Mannes auf der einen und die Ermordung des Sprechers der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, 1989 durch ein RAF-Kommando auf der anderen Seite, bildet den dramaturgischen Rahmen von Veiels nächstem Film „Black Box BRD“, der 2001 in die Kinos kam.
Nüchtern schildert Andres Veiel in seinem Film zwei deutsche Lebensläufe, die mit Gewalt beendet wurden. Als Symptome einer irritierten Gesellschaft und ihrer Hilflosigkeit. Auch „Black Box BRD“ ist ein Meisterwerk des modernen Dokumentarfilms, das bereits jetzt filmgeschichtlichen Rang besitzt. Veiels „Wer wenn nicht wir“ ist auf vielfältige Art und Weise ein Komplementärfilm dazu.
Fliehen oder standhalten ist das Thema von Veiels Langzeitdokumentation „Die Spielwütigen“, die zwischen 1996 und 2003 entstanden ist. Sie schildert geduldig die Ausbildung an der renommierten Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“.
„Ich wollte mich nach den vielen dunklen Themen wie Holocaust (Balagan), Freitod (Die Überlebenden) und Terrorismus (Black Box BRD) mit einem einfachen, lebensoffenen Thema beschäftigen“. So erklärt Andres Veiel seine Absicht bei „Die Spielwütigen“.
Doch so einfach ist der Film dann doch nicht geworden. Das vitale Portrait junger Menschen, die bereit sind, für ihren Lebenstraum zu kämpfen und dafür an ihre Grenzen und darüber hinaus gehen. Ein schöner, nachdenklicher Film.
Mit „Der Kick“ verwirklichte Andres Veiel 2005/2006 sein bis dahin umfangreichstes Projekt: im Sommer 2002 hatten drei Jugendliche einen vierten in einem brandenburgischen Dorf bestialisch ermordet. Aus dem Stoff entwickelte Veiel zunächst für das Berliner Maxim Gorki Theater zunächst ein dokumentarisches Zweipersonenstück und erst dann einen Film – ebenfalls mit Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch.
Etwas im Grunde Unbeschreibliches hat in „Der Kick“ eine überzeugende dramaturgische Form gefunden. Auf DVD gibt es den Film von Collectors Mine. Preis 23 Euro. Die Andres Veiel Box aus der „Edition der Filmemacher“ kostet von „Good Movies“ 49 Euro.
Sowohl zu „Der Kick“ als auch zu „Black Box BRD“ hat Andres Veiel ergänzende Bücher geschrieben. Sie sind mehr als nur das „Buch zum Film“, sondern enthalten zusätzliche, vertiefende Informationen. Sie geben einen Einblick in die akribische Recherche Veiels bei seiner Arbeit. Beide Bücher sind bei der Deutschen Verlagsanstalt bzw. als Goldmann-/Fischer Taschenbuch erschienen. Veiels Dokumentarfilme gibt bzw. gab es auch als Einzel-DVDs.
J.L.
Wo/wie ist “Die Überlebenden” erhältlich/sehbar ?