„Auf die Frage: ‚Welchen Weg bist du gegangen?’ würde ich antworten: ‚Den der Freiheit’“ Das sagte Nagisa Oshima 1965 in einem Interview. Er ist seinem Vorsatz bis heute treu geblieben. Krankheitsbedingt hat sich der inzwischen 78jährige Oshima vor über zehn Jahren mit „Gohatto“ vom Filmemachen zurückgezogen.
Vor allem die sowohl pointierten als auch überaus eleganten Tabubrüche in seinem Spätwerk haben Nagisa Oshima zu internationaler Bekanntheit verholfen. Davor war er außerhalb Japans bestenfalls den regelmäßigen Besuchern des „Internationalen Forums“ der Berlinale oder intimen Kennern des japanischen Independent-Films ein Begriff:
Im Rahmen der imponierenden DVD-Edition „Japanische Meisterregisseure“ von Polyfilm-Video sind vier Frühwerke Oshimas in bester technischer Qualität in der untertitelten Originalfassung erschienen. Im edlen Pappschuber gibt es ein Booklett mit den nötigsten Informationen zu den einzelnen Filmen und den Regisseuren (neben Oshima, Nomura, Kinoshita und Ozu), von denen ebenfalls Filme in der Reihe erschienen sind bzw. noch erscheinen sollen.
Bei Nagisa Oshima liegt der Schwerpunkt auf einer Auswahl mit markanten Werken, die bisher in Europa kaum bekannt werden.
So „Die Nacht des Mörders“ (1967) – Nagisa Oshimas zehnter Spielfilm in nur acht Jahren. Ein kühnes formales Experiment: hochartifiziell verbindet der Regisseur eine abstrakte Form mit inhaltlichen Grenzüberschreitungen: In einem Land, das scheinbar nur aus einer endlosen Wüste besteht und von einem totalitären Regime beherrscht wird, gerät ein junges Paar in ein Gefangenenlager. Hier darf jeder seine Bedürfnisse hemmungslos befriedigen – von Sex bis Mord. Ob man das Ganze überlebt, ist allerdings fraglich. Die Arbeit an „Die Nacht des Mörders“ hat Nagisa Oshima später so kommentiert:
„Dieses Mal werden wir die Dreharbeiten ohne eine schriftliche Fassung des so genannten Drehbuchs beginnen, die normalerweise zum Entstehungsprozess jedes Films gehört. Am Anfang werden wir nichts in der Hand haben als einen kurzen Text, der das Verhalten der verschiedenen Personen in einigen grundlegenden Bildern umreißt. Eine Art Bilder-Drehbuch, auf das wir – der Regisseur, der Drehbuchautor, der Kulissenbildner und der Produzent – uns als Ergebnis der bisheri-gen Diskussionen geeinigt haben. Unserer Ansicht nach sollte dieser kurze Text als Voraussetzung für den Beginn der Dreharbeiten genügen.“
Das wurde durch das Ergebnis bestätigt! Das Streiflicht auf eine lieblose Gesellschaft ohne Moral. Damit hat sich Nagisa Oshima von Anfang an beschäftigt. Die Edition der „Japanischen Meisterregisseure“ enthält mit „Das Grab der Sonne“ eine seiner markantesten Arbeiten aus dem Jahr 1960. Gedreht in CinemaScope und einer subtilen Farbdramaturgie taucht der Film in die gewalttätige Welt eines Armenviertels von Osaka ein. Wer hier überleben will, kann auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Für Oshima Symbol der japanischen Gesellschaft zwischen Agonie und Revolution. Ein beklemmt aktueller Film – formal wie inhaltlich.
1967 hat die allgemeine geistige Verelendung im Werk Oshimas die Mittelschicht erreicht: obwohl im selben Jahr wie „Die Nacht des Mörders entstanden drehte er „Sing a Song of Sex“ (in Farbe) nach einem formal komplett anderen Ansatz. Eine Gruppe angehender Studenten vagabundiert durch das Rotlichtviertel von Tokio – getrieben von allgemeinem Frust und Vergewaltigungs-Fantasien. Anstatt sexueller Triebabfuhr finden sie aber nur neue blinde Stellen einer Gesellschaft, die sich grundsätzlich nur selbst befriedigt.
Zu den im Westen bisher immerhin aus der Literatur bekannten Filmen Nagisa Oshimas gehört „Nacht und Nebel über Japan“ aus dem Jahr 1960 – ein politisches Schlüsselwerk in seinem Oevre: den Hintergrund bildete der Massen-Protest in Japan gegen den amerikanischjapa-nischen Beistandspakt. Die Demonstrationen waren von der Polizei brutal niedergeknüppelt worden. Oshima machte daraus ein komplexes Vexierbild über die Auflehnung gegen ein repressives politisches System. Mit der unmittelbaren Folge, dass die Produktionsgesellschaft „Nacht und Nebel über Japan“ nach wenigen Tagen aus den Kinos zurückzog. Darauf veröffentlichte der Regisseur eine wütende Protestnote:
„Es handelt sich offenbar um einen Akt der politischen Repression. Gewiss, die Besucherzahl lag etwas unter dem Durchschnitt; aber muss der Film deshalb abgesetzt und aus dem Programm genommen werden? Meiner Ansicht nach ist die brutale Absetzung Beweis genug für die poli-tische Repression…“
Der Protest half nichts. „Nacht und Nebel über Japan“ wurde erst nach Jahren wieder aus den Archiven geholt. Heute gilt er als einer der Schlüsselfilme der internationalen Protestbewegung der 1960er Jahre.
Um seine formal virtuos umgesetzten Symbole entschlüsseln zu können, bedarf es freilich einer intimen Kenntnis der gesellschaftspolitischen Verhältnisse im Japan dieser Zeit.
Über sein Selbstverständnis als Filmemacher schrieb Nagisa Oshima 1967:
„Alle unsere Filme weise auf die Zukunft hin. Das Material, das wir in der Vergangenheit oder der Gegenwart finden, dient uns nicht zur Erklärung der vergangenen oder gegenwärtigen Ereignisse. Wir benutzen den Stoff nur, er ein Bild der Zukunft in uns hervorruft: allein die Zukunft verleiht ihm einen Sinn, der über seine schlichte Bedeutung als Material hinaus- geht. Auf diese Weise entsteht ein Bild, das uns eigen ist und auch dem Publikum eine gewisse Vorstellung von der Zukunft vermitteln kann. Mit Hilfe dieses Verfahrens versuchen wir, Filme zu realisieren, die als reine Vorzeichen auf das Kommende zu verstehen sind. Ein Kino, das nichts neues verheißt, hätte unserer Ansicht nach keinen Sinn!“
Und so suchte und fand Nagisa Oshima neue formale und inhaltliche Ufer – wobei er seinen unverwechselbaren Stil weiter perfektionierte. Das zeigte sich bereits 1971 mit „Die Zeremonie“: auf mehreren Handlungsebenen geht es um ein Spiegelbild der japanischen Nach-kriegsgesellschaft und die vielfältigen Spielarten der Verdrängung. Nicht wenige Besucher entdeckten bei der europäischen Premiere von „Die Zeremonie“ nicht zu übersehende Parallelen zur westdeutschen Geschichte. Leider ist dieses Schlüsselwerk der modernen Filmgeschichte derzeit nirgends auf DVD erhältlich.
Im ersten Mal in ihrer Geschichte bekamen die Berliner Filmfestspiele 1977 amtlichen Besuch von der Staatsanwaltschaft. Sie kam, um die Kopie von Oshimas „Im Reich der Sinne“ zu beschlagnahmen. Der Film sollte – wie die meisten Filme Oshimas – seine europäische Premiere im Rahmen des „Internationalen Forums haben“. Forums-Chef Ulrich Gregor sah sich mit dem Verdacht konfrontiert, Pornographie vorzuführen. Der Vorwurf musste später revidiert werden, ebnete dem Film aber den Weg in die deutschen Kinos. Auf DVD gibt es ihn seit Längerem von Concorde Home Entertainment.
Fast eine halbe Million Besucher hatte 1984 „Merry Christmas Mr. Lawrence“ von Nagisa Oshima allein in der Bundesrepublik – und das obwohl der Film gegenüber dem Original um 45 Minuten gekürzt und deshalb dem Gang der Handlung nur bedingt zu folgen war. Jetzt ist „Merry Christmas Mr. Lawrence“ von Arthaus-Kinowelt erstmals unge-kürzt auf DVD veröffentlicht worden. In die deutsche Fassung sind die seinerzeit entfernten Szenen im Original mit Untertiteln wieder eingefügt worden: Zu entdecken ist ein in seiner Grundkonstellation typisches Werk des Regisseurs.
Am Beispiel eines Kriegsgefangenlagers auf Java 1942 reflektierte er hier ein geschlossenes Gesellschaftssystem, das sich selbst ruiniert: unversöhnlich stehen sich die englischen Gefangenen und ihre japanischen Bewacher gegenüber. Unfrei die Einen wie die Anderen. Ebenfalls ein großartiger Film – mit einer spektakulären Besetzung: David Bowie als englischer Major. Seinen japanischen Gegenspieler verkörpert der japanische Komponist Ryuichi Sakamoto. Seine Musik zu „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ wurde ein Hit und begründete seine internationale Karriere. Gewagt war damals die Besetzung eines sadistischen Sergeanten mit dem in Japan äußerst populären Komödianten Takeshi, aus dem erst später der Filmemacher Takeshi Kitano wurde. Er spielt auch die Hauptrolle in Oshimas letztem Film „Gohatto“.
Vier Filme aus der frühen Periode des Regisseurs Nagisa Oshima und ein grandioses Spätwerk endlich integral auf DVD. Anlass sich wieder einmal mit einem der wichtigsten Wegbereiter des modernen Weltkinos zu beschäftigen. Die DVDs aus der Reihe „Japanische Meister-regisseure“ des österreichischen Labels „Polyfilm Video“ kosten jeweils zirka 22 Euro. „Merry Christmas, Mr. Lawrence“ von Arthaus-Kinowelt mit umfangreichem Bonusteil zwischen 12 und 15 Euro.
Die Zitate wurden in dem Buch „Nagisa Oshima Schriften: Die Ahnung von Freiheit“ gefunden – Verlag Klaus Wagenbach, 1982.
Eine vorzügliche, dazu noch opulent bebilderte Einführung in die japanische Filmgeschichte ist mit „Japanese Cinema“- von Stuart Galbraith IV/Paul Duncan (Hg) bei Taschen erschienen – Preis: 19.99€. Darin findet sich der bemerkenswerte Hinweis, der auch auf Oshimas Filme zutrifft:
„Japanische Filmemacher haben es bemerkenswert geschickt verstanden, den Blick erschrocken und reflektierend auf das eigene Land zu richten, auf seine Kultur, seine Traditionen wie auch auf das Alltagsleben. Will man die japanische Seele verstehen, so bietet der ja-panische Film reiches Anschauungsmaterial zum Selbstverständnis dieser Nation….“