„Sieh‘,das Gute liegt so nah!“ spricht der Dichter. Das betrifft neuerdings auch die Filmfestspiele von Cannes. Die Gala zum Auftakt des „63. Festival de Cannes“ wurde live aus dem Palais du Festival per Satelit direkt in deutschen Lichtspielhäuser übertragen – so auch in das überaus feine Stuttgarter „Metropol“. Da gibt es kein Gedränge und kein Gehabe – sogar jede Menge freie Plätze! Dazu kommt wesentlich mehr Sitzkomfort als im ungemütlichen „Sale Lumiere“ in Cannes. Aber wo bleibt die Atmosphäre, werden Sie fragen? Von der bekommt der normale Sterbliche vor Ort auch nicht viel mit! Was auf dem „Roten Teppich“ im wahrsten Sinne des Wortes „läuft“ wird auf riesige Bildwände an der Croisette bzw. dem festivaleigenen TV-Sender übertragen. Da hat man es im „Metropol“ eindeutig bequemer und eine Topprojektion…
So nah wie auf der großen Kinoleinwand kommt man der Wirklichkeit des Festival de Cannes in Cannes nie: selbst wenn es einem gelänge, einen Fensterplatz in einem der Bürogebäude zu ergattern, die gegenüber des Palais de Festival liegen, würde einem entgehen, dass Russell Crowe mit einem Fuß auf der Abendrobe von Jury-Mitglied Kate Beckinsale stand und die indignierte Dame so am Weiterschreiten auf dem Roten Teppich hinderte oder wie die nicht mehr ganz taufrische französische Schauspielerin Arielle Dombasle (in vertraulichem Tete-a-tete mit dem skandalerprobten französischen Kulturminister Frédéric Mitterand) aus der Nähe einer TV-Kamera den schrecklichen Flurschaden offenbarte, den die plastische Chirurgie an einem menschlichen Gesicht anrichten kann.
Dieses und vieles Andere gab es zu sehen – bis dann Kristin Scott Thomas durch die „Cérémonie d’ouverture“ führte. Die englische Schauspielerin – ab Juni mit der spaßigen Noel Coward-Verfilmung „Easy virtue“ im Kino zu sehen – trägt ihre kosmetischen Raffungen und Straffungen immerhin mit derselben diskreten Würde, mit der sie die Veranstaltung moderierte. Elegant präsentierte sie etwa die Jury, der Tim Burton vorsitzt und das Team des Eröffnungsfilms „Robin Hood“. Regisseur Ridley Scott musste sich entschuldigen. Auch nicht mehr der Jüngste, lässt seine Gesundheit zu wünschen übrig. Aber neben Cate Blanchett und Russell Crowe war sogar der greise Max von Sydow angereist.
Nach einer knappen Stunde war die Veranstaltung zu Ende und weil ich „Robin Hood“ – der schloss sich auch für die deutschen Kinogänger an – bereits gesehen hatte, konnte ich mich entspannt auf den Heimweg machen: Ohne mich durch die Menschenmassen der Croisette zu kämpfen, ohne die Aussicht auf eine Nachtschicht, um diverse Morgenmagazine mit meinen Cannes-Impressionen zu beglücken. Dass gleicht die fehlende Cannes-Atmosphäre in der Stuttgarter Bolzstraße vollends aus. Morgen muss ich auch nicht bereits um acht vor dem Palais du Festival auf Einlass zur ersten Pressevorführung warten, um dann im jetzt wieder schmucklosen „Sale Lumiére“ „Chongqing Blues“ von Wang Xiaoshuai zu sehen. Wobei ich die bisherigen Filme des chinesischen Regisseurs (z.B. „Bejing Bicycle“) sehr mag.
Interessant könnte um elf dann das Regiedebut des Schauspielers Matthieu Amalric werden. Der hat in „Schmetterling und Taucherglocke“ und als Bond-Bösewicht eine gute Figur gemacht. Vielleicht gelingt ihm das auch als Regisseur. „Tournée“ heißt sein Erstling.
Ja, es gibt auch in diesem Jahr wieder jede Menge Filme im Cannes-Angebot, die einen wehmütig zur Cote d’Azur blicken lassen: Neues von Kitano, Luchetti, Bouchareb oder Weerasethakul. In der zweiten wichtigen Sektion des Festivals „Un certain regard“ darf man auf neue Filme von Jean-Luc Godard, Manoel de Oliveira und Christoph Hochhäusler gespannt sein.
Am uninteressantesten könnten sich einmal mehr die Filme der populären Namen erweisen, die dem Festival in der Regel nur als Staffage für Starglamour dienen: nach Ridley Scotts überflüssigem „Robin Hood“ ist weder von Oliver Stones „Wall Street“-Aufguß noch von Woody Allen viel zu erwarten. Der Titel seines Films klingt bereits wie eine Drohung: „You will meet a tall dark stranger“.
Also gehe ich jetzt gemütlich ins Bett, freue mich auf morgen und Kristina Hortenbachs „Cannes Letter 2“. Sie wird vermutlich von ihrer kurzen ersten Cannes-Nacht berichten.