Sonbahar – Türkei/Deutschland 2008, Regie: Özcan Alper, mit Onur Saylak
Yusuf ist schwer krank – TBC. Deshalb wird er nach zwölf Jahren vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen, nachdem er 1992 zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Das Vergehen: sein Engagement in einer linken Studentenorganisation. Gebrochen an Leib und Seele kommt Yusuf zu Beginn des neuen Jahrtausends in sein abgelegenes Heimatdorf an der türkisch-georgischen Grenze zurück.
Zu Hause wird Yusuf von seiner Mutter erwartet. Sie weiß nichts von seiner Krankheit. Ebenso wenig wie Mikhail, der Jugendfreund. Politisch und menschlich sind sie sich fremd geworden. Aber immerhin im selben Alter, in einem überalterten Dorf. Eines Tages gelingt es Mikhail, Yusuf zu einem Ausflug in die Kreisstadt zu überreden. In einer Bar treffen sie die georgische Prostituierte Eka.
Yusuf besucht sie in den nächsten Wochen öfter. Zwei Seelenver-wandte scheinen sich gefunden zu haben. Jeder auf seine Weise ent-wurzelt und gleichzeitig an einem Endpunkt angekommen. In ihrem Leben ist es vor der Zeit Herbst geworden.
Auch in der Landschaft im Nordosten der Türkei, in der Özcan Alper seinen Film „Sonbahar/Herbst“ angesiedelt hat, neigt sich der Lauf des Jahres dem Ende entgegen. Mit seinen in sich ruhenden langen Einstel-lungen ist dieser Filme eine Elegie des Ausklangs. Die unsentimentale Beschreibung von Menschen, die für ihren Widerstand gegen die po-litischen Verhältnisse einen hohen Preis bezahlt haben. Regisseur Özcan Alper fasste seine Absicht bei „Sonbahar/Herbst“ in einem Bei-trag zum Katalog der Filmfestspiele Locarno 2009 zusammen:
„Der Film hat einen autobiographischen Hintergrund: Yussuf ist gewissermaßen mein alter ego: Wie Yusuf beteiligte ich mich an dem Kampf der Studenten gegen die antidemokratischen Gesetze, die in den 1980er Jahren von den Siegern des Staatsstreichs eingeführt wurden. Wir versuchten unseren Platz in der Gesellschaft zu finden. Tausende wurden damals eingesperrt, nur weil sie ihre Freiheit forderten. Wie Yusuf bin ich an der türkisch-georgischen Grenze aufgewachsen. Dabei haben mich zeitlebens Geschichten von Menschen begleitet, die die Grenze überquerten. Dieser Sinn für Bewegung, für Übergänge ist in „Herbst“ sehr präsent.“
Mit seiner Beschreibung des Übergangs lieferte Özcan Alper einen wichtigen Beitrag zur künstlerischen Neuorientierung des türkischen Films der Gegenwart. Kraftvolle Bilder für Geschichten über Menschen, die sich eisern bemühen, den verlorenen Gleichklang zur Natur wieder zu finden. Damit meint der Regisseur im übertragenen Sinne auch die Türkei selbst an der Schwelle zwischen Tradition und Moderne, dem Islam und Europa. Das macht „Herbst“ auch zu einem eminent politischen Film, zu einer spannenden Reflektion über die momentane Seelenlage der türkischen Nation.